Luderplatz: Roman (German Edition)
hatten Forscher irgendeiner Universität in Schottland oder Portugal herausgefunden, dass Frauen eine andere räumliche Wahrnehmung hätten als Männer. Deshalb seien schon die Urmenschen so klug gewesen und hätten das Jagen mit Pfeilen und Speeren den besser zielenden Männern überlassen, so der Ressortleiter. Der Chefredakteur hatte mit seinem Einparkwitz noch einen obendraufsetzen wollen. Und so taten ihm dann auch alle den Gefallen und lachten. Nur Viktoria blieb still. Sie hatte nicht zugehört, denn sie versuchte gerade, eine Formulierung zu finden, die kurz genug war, um als SMS zu taugen, und die dennoch zwischen den Zeilen sagen sollte, was sie empfand, ohne allzu viel zu verraten. I miss u war ihr einfach zu blöd, auch wenn es die Sache auf den Punkt brachte. Sie vermisste Kai Westmark.
»Na, Frau Latell.« Die Stimme des Chefs klang nur oberflächlich freundlich. Wer Guido Willmers kannte, wusste, es war eher drohend gemeint. »Ihnen war also schon bekannt, warum Frauen so schlecht einparken können?«
Viktoria drückte kurz auf die Senden-Taste ihres Handys, dann schaute sie auf. Sie hatte nichts von der wissenschaftlichen Studie mitbekommen, aber mit alten Witzen kannte sie sich aus. »Klar«, sagte sie, »weil die Männer ihnen immer weismachen, dass das hier …«, sie hielt Zeigefinger und Daumen in die Höhe, sodass zwischen den Fingern eine kleine Lücke von vielleicht einem Zentimeter Luft war, » … dass das hier zwanzig Zentimeter sind.«
Dem Chef klappte der Mund auf. Die Kollegen grölten und klopften sich auf die Schenkel . Charly , der wie immer neben ihr saß, liefen Lachtränen aus den Augen.
Viktoria lächelte ihr Victory-Lächeln und hatte keine Ahnung, was so witzig an diesem alten Gag war. Sie blickte wieder auf ihr Display und entdeckte das Briefsymbol. Doch erst als sich alle wieder beruhigt und der Kulturchef von den neuesten Premierenfeiern und irgendeinem Theaterstreit berichtete hatte, schaute sie heimlich nach – und war enttäuscht. Der Absender war Mario Siewers. Der Zeitungsfotograf und … Ja, was war er eigentlich für Viktoria? Weniger als ein Freund, beinahe ein Kumpel oder einfach nur ein guter Kollege? Fest stand, er hatte den richtigen Fotografeninstinkt, und deshalb arbeitete Viktoria gerne und oft mit ihm zusammen. Außerdem nervte er nicht. Eine besonders nette Eigenschaft, wie Viktoria fand.
Als sie las, was er ihr geschrieben hatte, stand sie schnell auf, murmelte etwas von »Treffen mit Informanten« und verabschiedete sich mit einem kurzen Nicken. Willmers schaute ihr wütend nach. Sie wusste, dass er sauer auf sie war. Wegen der Pointe, die sie ihm versaut hatte, und wegen der verpatzten Schützenfestreportage im vergangenen Sommer, auf der sie Kai kennengelernt hatte. Und ganz besonders ärgerte er sich darüber, dass er sie nicht rausschmeißen konnte. Dafür war sie einfach zu gut.
Viktoria Latell hatte diese besondere Gabe, Menschen zu knacken. Bei ihr heulten sich Witwen ermordeter Ehemänner aus, knallharte Polizisten fütterten sie mit Informationen, die sonst keiner bekam, und Typen mit Schlägervisage brachte sie zum Lächeln. Selbst mit den meisten Kollegen kam sie gut zurecht – und das war wahrscheinlich bei einer Zeitung wie dem Express das größte Verdienst. Sie selbst konnte am wenigsten verstehen, warum so viele ausgerechnet ihr Vertrauen oder gar Zuneigung entgegenbrachten. Denn sie selbst mochte weder sich noch andere besonders. Sie war klug genug, um zu wissen, dass ihre langen Beine und ihr Victory-Lächeln einen großen Anteil an ihren Erfolgen als Reporterin hatten. Sie war aber auch klug genug, sich niemals darauf zu verlassen. Ihr Hirn funktionierte recht gut, und es meldete ihr in den richtigen Momenten, was das Richtige war. Eines war ihr immer klar: Das, was sie tat, war nicht besonders wichtig. Und weil sie es so unwichtig fand, war sie cool.
Das unterschied sie von den meisten Leuten, die um sie herum strampelten und traten und machten und taten, um Erfolg zu haben, hinaufzuklettern, anzugeben, dazuzugehören zur großen, wichtigen Berliner Medienszene.
Viktoria gehörte dazu. Das wusste sie, das nutzte sie, aber eigentlich war es ihr egal. Ich rette keine Menschenleben, dachte sie immer. Ich verändere nicht die Welt. Ich sorge für ein paar Schlagzeilen, ich schreibe ein paar schöne Worte – ich kann eben nichts anderes. Ob sie etwas anderes wollte, wusste sie nicht.
Fast hätte sie gelacht, als Mario ihr die Tür
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