Luderplatz: Roman (German Edition)
Kollegen vom Express rauschten an ihnen vorbei und nickten zum Gruß und Abschied. Es war längst Feierabendzeit. Doch so richtig ruhig wurde es in einem Verlagsgebäude wie diesem eigentlich nie. Mario und Viktoria fuhren mit der Rolltreppe Richtung Kantine. Auf den Hinweisschildern stand natürlich nicht Kantine, sondern Restaurant Blickpunkt, aber gemeint war dasselbe. Dort aßen alle, die hier arbeiteten. Außer natürlich die Chefredakteure und Herausgeber. Die tafelten in echten Restaurants außerhalb des Gebäudes oder ließen sich silberne Tabletts mit Obst, Rohkost oder Sandwiches in ihre Büros liefern.
Um diese Uhrzeit saßen im Blickpunkt weder die Chefredakteure noch deren Angestellte. Es war leer, ein rotes Seil versperrte demonstrativ, aber wenig effektiv den Eingang. Viktoria berührte Mario am Arm. »So, jetzt versuch, dich zu erinnern. Hier haben wir sie doch öfter gesehen.«
Er nickte und schaute auf die leere Salatbar. »Das bringt doch nichts hier, Victory. Komm, lass uns abhauen.«
Viktoria blieb stehen. »In welche Richtung ist sie gegangen, wenn sie mit dem Essen fertig war? Den Ausgang runter, oder ist sie die Rolltreppe hochgefahren?«
Mario grübelte und schaute in beide Richtungen. »Hoch.«
»Sicher?«
Mario nickte. »Sie hatte neulich diesen kurzen Rock an, und ich stand ganz günstig, als sie nach oben fuhr. Den Anblick vergisst man nicht so schnell.« Er versuchte zu grinsen, und Viktoria verkniff sich eine tadelnde Bemerkung.
»Okay. Nach oben. Da sind das Reisebüro, diese PR -Agentur mit der nervigen Pressefrau und die Redaktion von diesem Ratgeber-Yellow-Blättchen, wie heißt es doch gleich …«
Mario legte die Stirn in Falten. »Weiß nicht. Wieso ist das wichtig?«
Viktoria verdrehte genervt die Augen. »Weil deine Nana vielleicht in einem dieser Büros gearbeitet hat und wir so herausfinden können, wie sie mit Nachnamen heißt und ob sie gesund ist oder …«
Mario fiel ihr ins Wort: » Schlau und Schön – so heißt das Blatt. Haben sie wahrscheinlich nach dir benannt.« Er grinste.
Viktoria war erleichtert. So langsam wurde Mario wieder normal.
Kai Westmark war demotiviert. Und das schon, bevor er das erste Blatt in der Hand hielt. Schlapp saß er in dem modernen Drehstuhl mit ergonomischer Rückenlehne. Vor ihm häuften sich Papiere, die ihm seine Sprechstundenhilfe kurz vor ihrem Feierabend auf den Schreibtisch gepackt hatte. Natürlich war ihm klar gewesen, dass es dauern würde, bis er Routine erlangt hätte. Und es war ihm auch klar, dass Arzt zu sein auch bedeutete, viel und vor allem lange zu arbeiten. All das wusste er, und all das hätte ihn nicht gestört. Doch dass ihn das, was er tat, so wenig herausfordern und vor allem so wenig erfüllen würde, damit hatte er nicht gerechnet. Seit er denken k onnte, hatte er davon geträumt, eines Tages die Praxis seines Vaters zu übernehmen. Die ersten Zweifel kamen, kurz bevor sein Vater starb. Doktor Johannes Westmarks Herz blieb stehen, und Kai hatte sein Erbe angetreten. Er hatte die Praxis in Westbevern renoviert, modernisiert und eröffnet. Es fühlte sich gut an, der Mutter beizustehen, den letzten Wunsch des Vaters zu erfüllen, sein eigenes kleines Reich zu errichten. Inzwischen war er allerdings nicht mehr sicher, ob es nicht eher der Traum seines Vaters gewesen war, dem er hinterhergelaufen war. Müde griff er nach dem ersten Blatt auf dem Stapel.
Sein Handy surrte und ließ die Tischplatte vibrieren. Er griff danach, öffnete die SMS , las sie und lächelte. Dann verschränkte er die Arme hinter seinem Nacken, lehnte sich entspannt zurück und kramte in der Schreibtischschublade nach den Zigaretten. Er schloss die Augen und inhalierte. Schade, dass sie in Berlin ist, dachte er. Und: Schön, dass sie hier war.
Im Innern des Reisebüros war es dunkel. Nur die Schaufenster verkündeten hell erleuchtet, dass die nächste Traumreise fast nichts kosten würde und Fernweh heil bar sei. Viktoria versuchte, die Namensschilder auf den Beratertischen zu lesen. Mit viel Fantasie stand dort Müller, doch es könnte auch Wüllner, Meier oder Schmidt heißen. Sie gab auf. Heute würden sie nicht mehr erfahren, ob Nana hier arbeitete. Die PR -Agentur lag hinter einer schlichten Tür neben dem Reisebüro. Gerda Hinzmann war die Inhaberin und eine unglaubliche Nervensäge. Ihre aufdringlichen Rundrufe in allen Berliner Redaktionen waren legendär, ihr Einstiegssatz: »Es geht mir dieses Mal wirklich nicht um die
Weitere Kostenlose Bücher