Luderplatz: Roman (German Edition)
Prolog
Er weiß, dass es nicht helfen wird. Doch er leckt mit seiner Zunge über die spröden Lippen, spürt die trockenen Hautstückchen, die Risse. Sofort wird der warme Spuckefilm wieder eiskalt, wie der Rest von ihm. Wenn er nicht gleich kommt, wird er sein Gewehr wieder einpacken. Doch noch spürt er den kühlen Holzkolben seiner Mag 5,6 x 50 R an seiner Wange, noch konzentriert er sich. Wäre er alleine hier, dann würde er nicht länger warten. Er läge längst in einer heißen Badewanne und würde sich seinen Mund mit Blistex eincremen und seine Füße, seine Hände, seinen steifen Nacken aufwärmen. Er hört den Reißverschluss von Karls Jacke, hört, wie er den Verschluss aufdreht, und riecht den Alkohol, dessen würziger Geruch aus der kleinen flachen Flasche strömt, die sein Freund ihm vor die Nase hält.
»Noch ’ne halbe Stunde.«
Sein Kamerad hat seine Gedanken gelesen. Er nimmt einen Schluck, genießt die kleine Hitzewelle, die durch Kehle, Speiseröhre und Magen fließt, und nickt erleichtert. Noch eine halbe Stunde. Der Schnaps brennt auf seinen Lippen.
Dann nimmt er einen Schatten wahr. Er kommt näher. Er ist auf der Hut. Gerade so, als wisse er, was ihn hier erwarte. Doch die Gier ist zu groß. Er schleicht sich näher, nutzt die kleinen Bäume am Bachlauf als Schutzschild. Bevor er zu graben beginnt, schaut er sich um. Als er sein erstes Stück gefunden hat, hallen zwei Schüsse durch diese Januarnacht.
Er fällt seitlich in den Schnee, ein paar Fasane flattern in den mondbeschienenen Himmel.
Tobias und Karl klatschen sich ab. Sie haben gerade ihren ersten Fuchs erlegt. Schnell klettern sie aus dem Unterstand und schreiten über das Feld zu dem toten Tier. Karl hält die Taschenlampe, Tobias kniet sich neben ihre Jagdtrophäe. In dessen Maul steckt noch ein Stück von dem Aas, das hier am Luderplatz in einem vergrabenen alten Rohr gelegen hat, um ihn anzulocken. Das Licht der Taschenlampe fällt auf das Fleisch. Tobias starrt darauf. Geschickt nimmt Karl es aus dem Maul und schmeißt es in den Bach.
Tobias schluckt. »Was war das?«, fragt er leise.
Karl lacht. »Was war was?«
»Da war eine Zeichnung auf dem Fleisch.«
»Eine Zeichnung? Spinnst du?«
»Es war ein Bild auf dem Fleischstück.«
»Meinst du, da hat jemand die Mona Lisa auf einen Tierkadaver gemalt?«
»Nein, keine Mona Lisa. Aber ich habe eine Zeichnung gesehen. Es waren Beine – und Arme.«
Karl lacht und hält Tobias den leeren Flachmann unter die Nase. »Vielleicht verträgst du nicht so viel hiervon.«
Tobias nickt lahm und wünscht sich, es wäre noch ein Schluck Alkohol in der Flasche.
1. Kapitel
Viktoria Latell zählte die leeren Colaflaschen, die wie eine durchsichtige Mauer am Rand ihres Schreibtischs standen, und blinzelte. Sonnenstrahlen brachen sich im Glas. »13«, murmelte sie und lehnte sich zurück.
»Das bringt Unglück«, sagte Charly Berendsen mit seiner krächzenden, unheilvollen Catweazle-Stimme vom Platz gegenüber.
Der Sekundenzeiger der großen Redaktionsuhr rückte vor – 10.00 Uhr: Morgenkonferenz, Viktoria stand auf. Ihr Thema heute war die neue Polizeistatistik. Sie würde die sachlichen Zahlen und Fakten so aufbereiten, dass auch der dümmste Leser des Express begriff, dass es immer schlimmer wurde in Berlin. Dazu würde sie natürlich einen bissigen Kommentar schreiben, in dem sie das Horrorszenario des brutalen Berlins beschwören und die Machtlosigkeit der Polizei sowie die Ideenlosigkeit der Politik anprangern würde. Es würde sich gut lesen lassen. Dass Viktoria nicht die geringste Ahnung hatte, wie man gegen Schläger in U-Bahnen und die verrohten Jugendgangs vorgehen sollte, merkte wahrscheinlich niemand. Egal. Der Express von morgen ist übermorgen schon wieder von gestern, dachte sie und trank im Stehen den letzten Schluck aus der Colaflasche, die sie in ihrer Hand gehalten hatte. Sie stellte sie zu den dreizehn anderen. »14«, murmelte sie in Charlys Richtung. »Nix mit Unglück.« Im selben Moment hörte sie das vertraute Geräusch aus ihrem Handy. Eine SMS von Kai Westmark. Viktoria lächelte. Morgen räum ich die Flaschen weg, dachte sie. Sonst werde ich am Ende noch abergläubisch.
»Na, dann wissen wir ja endlich, warum Frauen so schlecht einparken können.« Der Chefredakteur machte eine Pause und blickte triumphierend in die Runde. Gerade hatte der Ressortleiter »Vermischtes« von einer Agenturmeldung aus dem Bereich Wissenschaft berichtet. Demnach
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