Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
Stockwerk.
Sie schlug die Hand vor den Mund, als sie ihn sah, dann nahm sie ihn an der Hand. »Komm erst mal rein.« Sie führte ihn ins Badezimmer.
Er setzte sich auf den Klodeckel und schnaufte, dann stand er auf, stellte sich vor den Spiegel und wusch sich vorsichtig Hände und Gesicht. Das Gesicht sah nicht so schlimm aus, wie er befürchtet hatte. Zwei Pflaster, eines unterm Auge, das andere am Kinn. Ein paar Kratzer, das Blut war verschorft und schmierte, als er die Stellen mit dem Waschlappen berührte. Er tupfte sie mit einem Kosmetiktuch notdürftig trocken. Dann begann er sich auszuziehen, während sie verschwand und gleich zurückkehrte mit trockener Kleidung. Sie stützte ihn, als er die Hose wechselte. Dann brachte sie ihn ins Wohnzimmer, er legte sich auf die Couch. Stachelmann hörte es glucksen, die Tür zum Kinderzimmer war angelehnt. Dann klapperte es.
Er berichtete in unvollständigen Sätzen, was geschehen war. Am Ende wiederholte er: »Der hat auf mich geschossen. Knapp vorbei.« Er dachte an die Kugel, die neben ihm im Boden eingeschlagen war, und an die Kugel, die die Tür durchbohrt hatte, als Stachelmann sie geöffnet hatte. »Der hat auf mich geschossen.«
Anne schaute ihn lange an, schüttelte ihren Kopf, sodass die halblangen schwarzen Haare über die Schultern tanzten. »Warum?«
Stachelmann dachte nach, fand aber keine Antwort. »Weiß nicht. Er hat viermal auf mich geschossen. Viermal.«
»Aber doch nicht, weil er dich kennt. Sondern weil du zufällig dort warst.«
»Viermal«, flüsterte Stachelmann.
Sie stand auf, beugte sich über ihn, strich zart über die Pflaster und küsste ihn auf die Stirn. »Das war ein Verrückter. Er hat nicht dich gemeint.«
Stachelmann schloss die Augen. Er versuchte sich vorzustellen, was geschehen war. Es war ein Mann gewesen, bestimmt. Der hatte mit einem Gewehr auf dem Dach der WiSo-Fakultät gelegen und gewartet, bis ihm ein Ziel vor das Visier lief. Stachelmann musste bald zu Taut, um zu erfahren, ob die Polizei schon mehr wusste. Vielleicht hatte sie den Schützen festgenommen. »Ich muss zur Polizei«, sagte er.
»Aber nicht jetzt. Du stehst unter Schock, dein Kreislauf ist nicht stabil. Du klappst zusammen.«
»Dann fahr mich hin.«
Anne warf einen Blick zum Kinderzimmer, dann sagte sie: »Erhol dich erst, dann bring ich dich hin, morgen.«
Er wollte widersprechen, aber dann ließ er es. Sie hatte recht. Und in ihrer Wohnung war er sicher. Wenn er jetzt mit Ossi oder Carmen telefonieren könnte. Aber das ging nicht mehr. Ossi war tot. Und Carmen, der Gedanke an sie machte ihn traurig. Er versuchte sich an ihr Gesicht zu erinnern. Aber es war verschwommen, eigentlich nicht erkennbar.
Anne ging ins Schlafzimmer, wo ihr Schreibtisch stand.
Er grübelte, was er getan haben konnte, damit einer auf ihn schoss. Er suchte in seiner Erinnerung nach etwas, das er einem anderen angetan haben konnte. Er fand nichts. Natürlich hatte er Seminararbeiten kritisiert, aber keinem Studenten einen Schein verwehrt. Nein, da war nichts.
Leise Schritte tapsten näher. Stachelmann linste, es war Felix, mit seinem Lieblingsstofftier, einem Elefanten, in der Hand. Felix stellte den Elefanten auf Stachelmanns Bauch und sagte: »Wau!«
Stachelmann überlegte, welche Geräusche Elefanten machten, und erinnerte sich des letzten Besuchs in Hagenbecks Tierpark. »Elefanten machen so.« Er trötete, Felix lachte und machte es ihm nach. Dabei legte er den Oberarm an die Nase. Dann fegte er hinweg, stolperte über ein Kissen, das er wohl selbst auf den Boden geworfen hatte, erschrak, blieb einen Augenblick liegen, stand wackelig wieder auf und rannte weiter.
Stachelmann schloss die Augen, gleich kehrten die Bilder zurück in seinen Kopf. Und das Geräusch, als die Kugeln neben ihm das Pflaster splittern ließen. Erst hatte es geklungen, als würden Steine aneinandergeschlagen, gleichzeitig pfiff es.
Er hörte die Geräusche in der Wohnung wie durch eine Wand. Als er die Hand vor die Augen hielt, sah er sie zittern. Anne kam aus der Küche und stellte ein Tablett auf den Tisch. Teeduft verbreitete sich. Sie rückte den Sessel näher ans Sofa heran, sodass sie ihm den Kopf streicheln konnte.
»Morgen wirst du wissen, dass du nicht gemeint warst. Vielleicht haben sie den Kerl schon.« Sie goss Tee ein und schob einen Becher in seine Nähe. Er hob den Oberkörper und nahm die Beine von der Couch, bis er saß, dann rückte er ans Ende des Sofas, beugte sich vor,
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