Lüge eines Lebens: Stachelmanns vierter Fall (German Edition)
»Er fühlte sich vielleicht herausgefordert, weil er Sie beim ersten Mal nicht getroffen hatte und Sie sich in Deckung bringen wollten. Da konnte er seine Macht nicht mehr ausleben. Man muss sich das vorstellen« – er schloss die Augen –, »was manche Leute fühlen, wenn sie eine Waffe in der Hand halten. Herr über Leben und Tod.« Er öffnete die Augen wieder. »Sie haben Angst, dass es sich wiederholt?«
Stachelmann nickte.
»Und Ihnen ist dazu immer noch nichts und niemand eingefallen?«
»Nein«, sagte Stachelmann. »Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung. Aber Angst.« Das Letztere war ihm herausgerutscht.
Taut schaute kurz auf von der Tischplatte, sagte aber nichts.
»Ich frage mich, wie dieser E.T. an meine Habilitationsschrift kommt.«
»Und wie?«, fragte Taut. Er kannte die Bräuche an Universitäten nicht.
»Die ist noch nicht veröffentlicht. Es gibt ein paar Kopien für die Prüfer, vielleicht haben es welche von denen noch anderen zu lesen gegeben. Und die Leute im Verlag kennen das Manuskript.«
»Das heißt, der Kreis derjenigen, die Ihre Arbeit gelesen haben können, ist überschaubar.«
»Ja.«
»Machen Sie mir eine Liste. Gleich jetzt und hier.« Er schob Stachelmann einen Schreibblock und einen Kugelschreiber über die Tischplatte.
Stachelmann schrieb die Namen der Prüfer auf, dann setzte er den Schmid Verlag auf die Liste. »Glauben Sie ernsthaft, einer der Prüfer oder Herr Schmid zetteln eine Internetkampagne gegen mich an? Oder legen sich aufs Dach der WiSo-Fakultät und ballern mit so einem G3 herum?«
»Eher nicht. Aber irgendwo müssen wir doch anfangen.«
»Natürlich.« Stachelmann erhob sich.
»Machen Sie eine Therapie«, sagte Taut.
»Mal sehen.«
Stachelmann gab Taut die Hand und verließ den Raum. Als er die Straße betrat, knallte es. Er zuckte zusammen, fast hätte er sich auf den Bürgersteig geworfen. Es knallte wieder, und er entdeckte einen alten Benz, dessen Auspuff qualmte. Beim dritten Knall erschrak er nicht mehr. Aber er war froh, als das Taxi kam, das der Pförtner für ihn bestellt hatte.
Zurück bei Anne, berichtete er knapp von seinem Gespräch mit Taut und setzte sich ans Notebook. Felix spielte im Wohnzimmer. Anne stellte sich hinter ihn, als Stachelmann die Diskussionsgruppe Geschichte öffnete. Ein Pluszeichen vor dem Eingangsbeitrag im Stachelmann-thread zeigte an, dass jemand geantwortet hatte. Dieser Jemand nannte sich Günther Weigand, und er schrieb:
Hier postet man unter Klarnamen. Denunziationen sind feige. Also: Klarnamen nennen oder Maul halten.
»Stimmt, im Usenet ist es verpönt, unter falschem Namen zu posten«, sagte Anne. »Aber ein schlechtes Gewissen habe ich deswegen nicht.«
»Was ist das nur für ein Jargon!«, sagte Stachelmann. »Kriegt man raus, wer dieser E.T. ist?«
»Bestimmt nicht. Das hat der irgendwo in einem Internetcafé geschrieben oder wo heutzutage überall Computer mit Netzanschluss herumstehen.«
»Woher weißt du das alles?«
»Du kennst nur meine wenigen Schwächen.« Sie grinste. »Aber die sind eigentlich auch nur verkannte Stärken.«
»Schön, dass es wenigstens einer hier nicht an Selbstbewusstsein mangelt. Wir werden in den nächsten Tagen beobachten, ob E.T. den Mumm hat, sich vorzustellen. Aber was, verdammt, meint der Kerl? In keiner Zeile meiner Arbeit tue ich irgendeinem KZ-Opfer etwas an. Oder hast du was anderes gelesen? Und, überhaupt, meine Arbeit ist noch gar nicht veröffentlicht. Woher kennt er sie?«
»Das ist komisch. Wer weiß, wer sie alles kopiert und weitergegeben hat. Aber vielleicht hat dieser Bekloppte auch nur irgendwas gehört und es in den falschen Hals bekommen.«
»Wenn E.T. auf mich geschossen hat, weil ihm meine Habilschrift nicht gefällt, dann muss ich damit rechnen, dass er es wieder versucht.«
Er stand auf und ging zum Fenster. Schneeflocken wirbelten die Straße entlang. Der Winter war mild gewesen in diesem Jahr, aber er wollte nicht aufhören. Unten eilte eine Frau mit einer Einkaufstasche vorbei. Ob E.T. sich hier herumtrieb? Wenn er seine Arbeit kannte, die noch nicht veröffentlicht war, wusste er vielleicht auch, dass Stachelmann zurzeit meistens bei Anne wohnte. Er wollte zeigen, dass er zusammen mit ihr und Felix leben konnte, nachdem er letzten Sommer eine Krise verursacht hatte, weil er nicht mit in den Urlaub gefahren war, sondern nach Heidelberg. Da wäre ihre Liebe fast gescheitert. Aber in den letzten Wochen ging es besser, er glaubte auch,
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