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Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)

Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)

Titel: Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kerstin Gier
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überhaupt, dann brauchte Philipp jetzt ein Mädchen, das ihn Vokabeln abfragte und Mathenachhilfe erteilte. Religiöse Rituale und Philosophie würden ihm im Augenblick wenig nutzen, vor allem nicht, wenn es sich um die Art religiöser Rituale handelte, die ich Helena zutraute.
    Erst als die Flecken verschwunden waren, fiel mir Boris68 wieder ein. Oh nein! Hoffentlich war er nicht gegangen. Ich stürzte an den Computer und klickte die auseinanderbrechende Titanic beiseite. Auf dem Bildschirm stand:
Boris68: Was ist los, fairy? Angst?
Boris68: fairy???
Boris68: Okay, ich verstehe, dass du ein wenig Bedenkzeit brauchst. Morgen selbe Zeit, selber Ort.
00.56 Uhr Boris68 hat den Chat verlassen.

2. Kapitel
     
    B evor mein Chef mich dazu zwang, im Internet einen Mann aufzureißen, war ich mit meinem Leben ausgesprochen zufrieden. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt, und meine Karriere als Redakteurin beim Fredemann-Verlag hatte gerade erst begonnen.
    Außerdem war ich Single – aus Überzeugung und aus Zeitmangel –, was mir eine Menge Ärger und unnötige Komplikationen ersparte. Ich hatte liebe Freunde und eine Familie, in der alle auf eine nette Art verrückt und auf eine verrückte Art immer für mich da waren. Mit meinem kleinen Bruder Philipp teilte ich mir luxuriöse hundert Quadratmeter Wohnfläche, und weil diese hundert Quadratmeter im Anbau unseres Elternhauses lagen und ich obendrein als Babysitter für Philipp engagiert war, zahlte ich keine Miete, so dass von meinem gar nicht mal so bescheidenen Einkommen mehr als genug für andere Dinge übrig blieb.
    Natürlich wollte ich nicht für immer dort wohnen bleiben, ebenso wenig wie ich für immer Single oder für immer bei Annika bleiben wollte, aber zu diesem Zeitpunkt meines Lebens war ich damit völlig zufrieden.
    Dass man mit seinem Leben zufrieden ist, erkennt man am besten daran, dass man mit niemand anderem tauschen möchte, obwohl man eine Menge beneidenswerter Menschen kennt.
    Meine Schwester Antonia, genannt Toni, zum Beispiel war so ein beneidenswerter Mensch: Sie war bildhübsch, mit einem gut verdienenden Juristen verheiratet und mit drei entzückenden Kindern gesegnet. Wie alle Mitglieder unserer Familie – von den Angeheirateten mal abgesehen – hatten auch die Kinder dichte, tizianrote Locken, sogar das Baby. Wenn ich mit meiner Schwester und den Kindern spazieren ging, bekamen wir daher immer jede Menge Witze über Rothaarige zu hören. Nicht, dass uns das noch etwas ausgemacht hätte – wir kannten sie nur alle schon.
    »Philipp hat also schon wieder eine neue Freundin.« Toni biss herzhaft in eine Banane. Wir kamen gerade vom Einkaufen, einer Tätigkeit, der Toni nicht mehr ohne eine erwachsene Begleitperson nachkam, seit ihr Zweijähriger eine Pyramide aus Nutellagläsern zum Einsturz gebracht hatte. Toni behauptete, nackt durch ein Krokodilbecken zu tauchen sei ein Klacks gegen das Unterfangen, mit drei kleinen Kinder einen Supermarkt zu besuchen.
    Der Babyjogger, den ich schob, war randvoll mit Obst, Butterkeksen, Windeln und Tiefkühlspinat. Mittendrin schlummerte Baby Leander, gerade mal acht Wochen alt. Seine beiden Geschwister machten etwa zwanzig Meter vor uns den Bürgersteig unsicher.
    »Philipp ist gerade mal achtzehn und hatte schon mehr Beziehungen als Mick Jagger in seinem ganzen Leben«, fuhr Toni fort. »Ist sie hübsch, diese Helena?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Ehrlich gesagt, sie sieht aus wie Jahre nicht gewaschen und als würde sie sich schon zum Frühstück Valium ins Müsli rühren. Wenn Mama und Jost die kennen lernen, kriegen sie Zustände.«
    »Mama nicht, die steht auf Freaks«, meinte Toni. »Sie ist doch selber einer.«
    »Ja, aber eine andere Sorte Freak. Finn, lass das!«
    »Und du, bleib auf dem Bürgersteig, Henriette!«, schrie Toni. Das war leichter gesagt als getan: Henriette hatte eben erst gelernt, das Fahrrad ohne Stützräder zu fahren, eine beachtliche Leistung für eine Vierjährige, zumal ihr am Hinterreifen das Bobbycar ihres kleinen Bruders klebte, der unentwegt »Aus dem Weg! Aus dem Weg!« brüllte.
    Meine Schwester rannte ein paar Schritte. Sie hinderte Henriette daran, über die Bordsteinkante zu kippen und hielt Finn so lange an seiner Kapuze fest, bis ein Sicherheitsabstand zwischen Fahrrad und Bobbycar entstanden war.
    »Aus dem Weg!«, brüllte Finn, und Henriette schrie: »Wenn du mich einholst, spucke ich!«
    »Das Leben ist eine Bushaltestelle.« Toni seufzte, als ich sie

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