Lügen, die von Herzen kommen: Roman (German Edition)
wieder eingeholt hatte. Sie entsorgte die Bananenschale in einem hübschen blaulackierten Briefkasten, offenbar im festen Glauben, es handele sich um einen Papierkorb. »Wenn sie doch nur einmal aufhören würden, sich zu zanken.«
»Kennst du die Leute?«, fragte ich.
»Welche Leute? Finn! Ich hab gesagt, du sollst Henriette in Ruhe lassen! Hörst du wohl auf zu spucken, Henriette!« Toni drehte sich zu mir um. »Sie sind grässlich, oder? Aber das ist auch kein Wunder: Den ganzen Tag brülle ich sie nur an. Wo waren wir stehen geblieben?«
»Bei den Leuten, denen du gerade eine Bananenschale in die Post geworfen hast«, sagte ich. »Außerdem heißt es, das Leben ist eine Baustelle, Toni. Das ist ein Filmtitel. Und deine Kinder sind nicht grässlich. Wir haben uns in dem Alter auch immer nur gezankt, und Mama hat uns nur angebrüllt.«
»Das Leben ist eine Baustelle?«, wiederholte Toni und seufzte. »Wann komme ich denn schon mal ins Kino, hm? Nein, das Leben ist eine Bushaltestelle, bei der man den Bus verpassen oder in den falschen steigen kann, ohne es zu merken. Ich zum Beispiel sitze im falschen Bus. Dummerweise habe ich es gerade eben erst gemerkt. Scheiße, habe ich die Bananenschale wirklich in einen Briefkasten geworfen?«
Ich nickte. »Ich hab schon versucht, sie wieder rauszuholen. Geht aber leider nicht. Lass uns also schnell weitergehen, als wäre nichts gewesen.«
»Das wird immer schlimmer mit mir.« Toni strich sich hektisch eine Locke hinters Ohr. »Gestern kam ich mit den Kindern vom Kinderarzt. Henriette und Finn haben sich gezankt wie immer, und Leander hat gebrüllt wie am Spieß. Ich also schnell in den Keller, die Tiefkühlsachen in die Gefriertruhe gebracht, wieder hoch gehetzt, das Kleiner-Eisbär-Video reingeschoben und den Kleinen gestillt. Als ich dann später die Wäsche runtergebracht habe, fand ich die Tiefkühlsachen in der Waschmaschine. Glaubst du, ich hab Alzheimer, Verena?«
»Ich bin Hanna.« Verena war unsere andere Schwester, die als Model arbeitete und zur Zeit in Madrid lebte. »Nein, du hast kein Alzheimer«, sagte ich trotzdem. »Du hast einfach nur drei Kinder in vier Jahren bekommen. Damit wäre jedes Gehirn wahrscheinlich vorübergehend überfordert.«
»Vier Kinder in drei Jahren?« Toni seufzte. »Ich sag ja, ich sitze im falschen Bus. Oh nein! Finn! Lass das liegen! Das ist bah! Das ist Aa! Nicht anfassen! Bah! Aa! Kannst du nicht hören? DAS IST VERDAMMTE HUNDESCHEISSE!«
In diesem dramatischen Augenblick klingelte mein Handy. Es war meine Freundin Vivi, die mich daran erinnerte, dass ich vor unserem Sushiabend noch bei ihr vorbeikommen und ihre Bewerbungsunterlagen mit ihr durchgehen wollte. Und außerdem (sagte sie etwas weinerlich) habe sich der supernette Typ, den sie bei einer dieser Dating-Lines im Internet kennen gelernt hatte, als bisexuell geoutet.
»Eigentlich hätte man sich das bei dem Codenamen ja denken können«, sagte ich und reichte Toni ein Päckchen Taschentücher aus meiner Manteltasche. »Wahrscheinlich ist er außerdem pädophil.« Der Kerl hatte sich pünktchenundanton genannt. »Wie gut, dass ihr euch noch nicht im wirklichen Leben getroffen habt!« Vivi traf ihre Internet-Flirts glücklicherweise nie im wirklichen Leben, obwohl sie es sich jedesmal ganz fest vornahm. Ich sollte noch erwähnen, dass sie sich keineswegs – wie ich – aus beruflichen Gründen in zweifelhaften Chats herumtrieb, sondern tatsächlich hoffte, hier den Mann fürs Leben kennen zu lernen. Da sie es bisher aber noch nicht getan hatte, schied sie als Kandidatin für unsere »Liebe auf den ersten Klick«-Reportage leider aus. Vivi wäre eher was zum Thema »Warum gerate ich nur immer an den Falschen« gewesen.
»Ist es denn nicht schrecklich intolerant, wenn ich jemanden ablehne, nur weil er sexuell anders orientiert ist?«, fragte sie.
»Du lehnst ihn nicht ab, du lehnst es nur ab, mit ihm und seinem schwulen, minderjährigen Freund ins Bett zu gehen«, sagte ich geduldig.
»Meinst du, dass es das ist, was er von mir will?«
»Vivi, ich hab keine Ahnung. Aber wenn ich du wäre, würde ich es nicht unbedingt herausfinden wollen.«
»Warum nicht?«, fragte Vivi. »Nächste Woche werde ich dreißig. Und selbst ein perverser Mann wäre besser als überhaupt kein Ärger.«
»Warum nicht?«, murmelte auch Toni, die meinen Worten aufmerksam gelauscht hatte, während sie hektisch und hoffnungslos mit den Taschentüchern herumhantierte. »Alles ist besser
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