Lügen haben rote Haare
Baumwollunterhosen zulegen. Da schwitzt die Poritze nicht so, das ist besonders im Sommer sehr angenehm. Und die kann man in die Kochwäsche geben. Na ja, er muss es ja wissen, er trägt nur Baumwolle. Dicken Kuss, Mama. Ach ja, Papa lässt auch schön grüßen.
Und wieder verstehe ich Brunis Humor nicht, rechne ihr aber hoch an, dass sie den Ernst der Lage wieder schnell erkennt. Mir rechne ich noch höher an, dass ich nicht anfange, zu weinen. Keine Schmach ist größer, als jemanden bestrafen zu wollen, indem man unerreichbar ist und derjenige gar nicht bemerkt hat, dass man überhaupt nicht zu erreichen war. Zu welchem Zweck entfernt man sonst die Blockbatterie aus der Haustürklingel, wenn eh niemand klingelt? Das ist ja so, als würde ich nicht ins Fitnessstudio gehen und mich wundern, dass ich vom Nicht-Fitnesstraining keinen Muskelkater bekäme. Das ist doch so was von paradox! Oder sehe ich das verkehrt? Ich bin vollkommen durcheinander.
»Jetzt warten wir einfach mal ab, ob Roger nicht doch noch zu Kreuze kriecht«, schlägt Bruni mit sanfter Stimme vor.
Ich sehe ihr an, dass sie genauso daran zweifelt wie ich, und nehme wortlos meinen Skizzenblock und krickele missmutig mit einem Bleistift darauf herum.
Die Piefke kommt lächelnd, auf leisen Sohlen aus Geigers Büro und schließt die Lamellenvorhänge ihres Arbeitszimmers. Da ist er wieder, der verflixte ›Augenwurm‹.
Ich stelle sachlich fest, dass es doch eigentlich schön wäre, wenn die Piefke und Nikolaus etwas am Laufen hätten. Beide müssten sich vor niemandem rechtfertigen. Nikolaus ist seit ewigen Zeiten verwitwet, Frau Piefke nicht. Ist ja auch gar nicht möglich, denn sie war nie verheiratet gewesen. ›Unten rum‹ noch ziemlich neu, würde meine Mutter jetzt sagen. Ich mag nicht daran denken, dass ich mit 61 Jahren noch immer alleine sein werde, oder noch immer auf eine Entschuldigung von Roger warten würde. Ich zeichne weiter, halte mich an Brunis gut gemeinten Rat, und warte.
Warten ist viel anstrengender als Nichtwarten. Es ist doch sehr viel angenehmer, wenn der Bus sofort kommt und man nicht stundenlang an der Bushaltestelle stehen muss. Im Regen. Oder viel schlimmer noch, nachts. Allein. Im Nebel. Grauselige Vorstellung.
Darum schenkten mir meine Eltern zu meinem 18. Geburtstag einen kleinen dunkelblauen Fiat-Panda, damit ich niemals in eine solche Situation käme. Dumm war nur, dass ich zweimal vergaß zu tanken und mir beide Male, außerhalb geschlossener Ortschaften, der Motor verreckte. Allein. Nachts. Ach ja, und es war nebelig. Damals gehörten Handys noch nicht zur Standardausrüstung eines jeden Menschen, es dauerte also wesentlich länger, einen Hilferuf an die Eltern abzusetzen. Erst einmal musste nämlich eine Telefonzelle gefunden werden. Mein Vater regte sich fürchterlich über meine Oberflächlichkeit auf, kam beide Male in Bademantel und Puschen in seinem weißen 180er Mercedes mit 240 Stundenkilometern angerast. Auf dem Beifahrersitz hockte meine verstörte Mutter, die jedoch über ihrem Nachthemd, statt eines Bademantels, einen Putzkittel trug.
Danach durfte ich, auf Befehl meines Vaters, nur noch mit einem Ersatzkanister voller Benzin alleine mit dem Auto fahren.
»Aber Hermann«, äußerte meine Mutter jammernd ihre Bedenken, »wenn dem Kind jemand von hinten ins Auto kracht, dann kann doch der Kanister in Flammen aufgehen oder explodieren.«
Mein Vater lief vor Wut rot an und fuchtelte aufgeregt mit den Armen in der Luft herum und schrie: »Dann soll sie halt verbrennen! Verbrennen ist auf jeden Fall angenehmer, als vergewaltigt und abgestochen zu werden.«
Meine Mutter zuckte erschrocken zusammen, derartig unkontrollierte Ausbrüche meines Vaters kannte sie nicht.
Zaghaft hob ich den rechten Zeigefinger, so wie ich es in der Schule gelernt hatte, wenn ich etwas zum Besten geben wollte, und räusperte mich. »Also, wenn ich es mir aussuchen darf? Ich würde dann doch lieber verbrennen, als vergewaltigt und abgestochen zu werden.«
Meine Mutter setzte ihren beleidigten Blick auf, weil ich mit meinem Vater in ein Horn geblasen hatte, was äußerst selten der Fall war.
»Nun gut«, gab sich meine Mutter geschlagen, »wie du willst, Kind, dann verbrenn halt lieber.«
Wenn Roger und ich wieder ein Herz und eine Seele sind, werde ich ihn fragen, wie lange es dauert, bis ein Mensch verbrannt ist. Mit diesem Gedanken hatte ich mich eigentlich noch nie beschäftigt. Noch heute schleppe ich einen Kanister
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