Lügenbeichte
nicht in den Brennnesseln! Und wie kam sie darauf, dass Lilli Sander traurige Augen hatte? Josi konnte sich nicht an ihre Augen erinnern.
Sie musste jetzt vernünftig sein. Etwas schlafen.
Sie schlief.
Oder doch nicht?
Traumsequenzen surrten in ihrem Kopf herum wie Schmeißfliegen. Immer wieder taumelte sie durch ein absurdes Szenarium, wo Bäume vor ihr umfielen undder Wurzelteller blutete. Dann hörte sie Lou rufen: »Hol mich hier raus! Bitte, bitte, hol mich hier raus!«
Schweißgebadet, mit Herzklopfen bis zum Hals, schreckte sie hoch und horchte, aber sie hörte nur Thomas durch die Wohnung tapsen, durchs Wohnzimmer, durch die Küche in sein Büro. Sie wollte runter, zu ihm, aber ihre Beine waren zu schwach, um aufzustehen und in sein kaltes Büro zu gehen. Thomas' Büros waren immer kalt. Wie oft hatte sie schon an seinem riesigen Schreibtisch gesessen und gefroren. Dann war er nah und doch so weit entfernt, als wäre er gar nicht da. Er wurde erst warm vor Publikum, vor seinen Studenten.
Sie fror in ihrem eigenen Schweiß, faltete die Hände. Beten konnte sie nicht. Sie hatte noch nie gebetet. Zu wem denn auch? Sie glaubte an keinen Gott, anders als Robert. Er hatte abends immer gebetet. Bitte, bitte, lieber Gott! Aber sie konnte sich nicht mehr erinnern, was er von dem lieben Gott so inbrünstig erbeten hatte, nur dass Mama ihr erklärt hatte, dass Robert einen Gott brauchte und man ihm den nicht auch noch nehmen dürfte.
»Ich will auch einen Gott haben«, hatte sie einmal gesagt.
»Du brauchst keinen«, hatte Barbara erwidert. »Du hast eine Mutter und einen Vater, die dich über alles lieben.«
Montag
Ich weiß, du bist da. Ich höre dich! Ich kann nicht mehr warten, bis du wieder allein bist!
7:21
Endlich war die zähe Nacht vorbei. Josi lag noch im Bett und fühlte sich völlig ausgelaugt. Die Nacht war quälend langsam vorbeigegangen und andauernd tauchten Erinnerungen auf, an die sie gar nicht denken wollte und die ihr die letzte Kraft aussaugten, als säßen schwarze Monster um sie herum und schlürften sie mit Strohhalmen aus – das Bild hätte von Lou sein können, nur hätte er sich darüber kaputtgelacht.
Thomas war irgendwann gegen halb sieben in ihr Zimmer gekommen und hatte gefragt, ob sie nicht aufstehen und zur Schule gehen wollte.
»Nein«, hatte sie gemurmelt. Als sie Thomas die Treppe runtergehen hörte, fing sie wieder an zu frieren.
Sie stand auf und stellte sich unter die Dusche. Das Wasser auf ihrem Kopf – wie ein Platzregen.
Wo war Lou?
Beim Abtrocknen überlegte sie, was sie noch tun könnte. Sämtliche Freunde von Lou hatten sie längst angerufen, auch die Polizei hatte sie alle schon befragt; mittlerweile war auch die ganze Umgebung abgesucht worden.
8:09
Marina war in den Kindergarten gefahren, sie dachte, vielleicht tauchte Lou ja dort auf. So früh am Morgen hatte Josi sie noch nie gesehen. Sie war dezent geschminkt,trug ein knielanges helles Kleid und blaue Peep-Toe-Pumps.
»Vielleicht geht Lou ja von ganz allein in den Kindergarten. Das wollte er in der letzten Zeit doch immer, nicht wahr, Thomas?« Sie schaute Thomas an. Thomas biss sich auf die Lippen und nickte. »Unser Kleiner wird groß und selbstständig«, sagte Marina mehr zu sich selbst. Wie sie da durch die Wohnung irrte und bis sie endlich alles beisammenhatte – Handtasche, Geld, Spiegel, Schlüssel. Plötzlich tat ihr Marina fast leid. Sie hätte gern etwas Nettes zu ihr gesagt, aber da fiel schon die Haustür hinter ihr ins Schloss.
»Gut, dass sie in den Kindergarten geht«, sagte Thomas. »Dann hat sie was zu tun. Hier macht sie ja nur alle nervös.« Seine Stimme klang kalt und abweisend. Warum? Er konnte doch unmöglich noch sauer auf sie sein, weil sie sich auf der Party betrunken hatte, nach all dem Schrecklichen, was passiert war! Bedrückte ihn noch etwas anderes, was nicht mit dem Verschwinden von Lou zu tun hatte, oder bildete sie sich das nur ein? Sie hatte mitbekommen, wie Marina ihn wegen dieser Lilli Sander ausgefragt hatte, weil sie doch eine seiner Studentinnen war. Marina wollte wissen, in welchem Semester.
»Weiß ich doch nicht!«, hatte er sie angeherrscht und dann die Stimme gesenkt: »Lass mich damit bitte in Ruhe.« Er klang total gereizt und war ohne ein weiteres Wort in seinem Büro verschwunden. Mit Arbeit hatte er sich ja schon immer ablenken können.
Josi hätte auch gern was zu tun gehabt, irgendwas, was sie ablenkte, aber es gab nichts, die Zeit war aucham
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