Lügenbeichte
sagen, »der kommt in eine andere Familie, es geht ja nicht anders. Ich schaff das nicht mit ihm allein. Bei Thomas kann er sicher nicht bleiben.«
»Macht doch nichts«, hatte Josi gesagt und sich an Mama geklammert.
An die neue Umgebung und die neue Schule hatte sie sich wirklich schnell gewöhnt. In Kreuzberg war alles lebendiger als in Charlottenburg, es war immer was los, nicht nur Straßenfeste und Demos – und die neue Wohnung mochte sie von Anfang an gern. Ein Altbau, wie in Charlottenburg, aber hier war alles krumm und schief.Bei Mama war auch nichts gestylt und eher karg, sondern vollgestellt und gemütlich. Josi hatte sich tatsächlich schnell eingelebt. Nur Robert konnten sie nicht besuchen. Die neuen Pflegeeltern wollten das nicht.
»Warum denn nicht?«, hatte Josi gefragt, als sie merkte, wie traurig ihre Mutter deswegen war. Ein bisschen vermisste sie ihn auch, obwohl es viel schöner war, Mama für sich allein zu haben.
»Vielleicht ist das gar nicht so schlecht, wenn wir Robi erst mal nicht besuchen können, so kann er sich besser an die neue Umgebung gewöhnen. Er ist bei sehr fürsorglichen Leuten. Der Mann ist im Kirchenvorstand und die Frau konnte selbst nie Kinder bekommen und sie haben sich immer einen Sohn gewünscht. Dort wird er es guthaben.«
Josi merkte, wie sehr sich Mama wünschte, dass Robert es in der neuen Familie gut haben würde. Das wünschte sie sich auch. Und dass Robert nie wieder zurückkommen möge!
Josi stellte den Wasserhahn aus. Plötzlich hörte sie Marina schreien: »Wie kannst du mich so hintergehen?«
»Es war nur ein Abend, mehr nicht. Es ist halt passiert.« – Thomas' Stimme.
»So was passiert nicht einfach!«
Josi hielt sich die Ohren zu. Genau das hatte sie schon mal gehört und erlebt. Als sie die Hände von den Ohren nahm, war es still, bis auf den Herzschlag im Fuß. Sie humpelte zum Schrank und suchte nach Salbe.
Warum nur war diese Lilli zu ihnen nach Hause gekommen? Was hatte sie von Thomas gewollt? Sie musste doch damit gerechnet haben, dass Marina da war. Wusste sie etwa nicht, dass der Herr Professor schon mal verheiratet war und sogar eine große Tochter hatte, die nur zwei Jahre jünger war als sie selbst, und dass er mit einer Exstudentin einen kleinen Sohn hatte?
Aber sie kannte ja sogar Marinas Namen! Das war, was Josi nicht verstand. Was hatte das alles zu bedeuten und was um Himmels willen hatte Thomas mit ihrem Tod zu tun?
Josi humpelte mit der Salbe ins Wohnzimmer. Da saß Marina in einem der Sessel mit einem Whisky in der Hand. Thomas stand mit dem Rücken zu ihr vor der offenen Terrassentür und rauchte. Marina guckte sie aus großen, verheulten Augen an, ihr Mund war zu einem Strich verzogen. Sie sah klein und zerbrechlich aus. Thomas drehte sich nicht um.
»Was ist mit Lou?«, fragte Josi und öffnete die Tube. Ein Schwall Salbe schoss heraus. Sie hatte zu stark gedrückt. Marina blieb stumm, sah zu, wie die Salbe auf die Fliesen klatschte. Dann trank sie ihr Glas in einem Zug aus.
»Herr Werner hat eben noch mal angerufen. In der Krumme Lanke haben sie nichts gefunden«, sagte Thomas und atmete auf. Endlich drehte er sich um. Er sah müde und blass aus, ungewaschen, unrasiert – so hatte Josi ihren Vater noch nie gesehen; er wirkte zehn Jahre älter.
Marina stand auf und ging in die Küche. Sie trug jetzt ihre Strenesse-Blue -High-Heels, mit mindestens zehn Zentimeter Absatz. Jeder Schritt von ihr tat Josi in den Ohren weh. Sie hörte, wie Marina am Kühlschrank hantierte, Eiswürfel ins Glas gab, dann die Whiskyflasche aufschraubte, sich neu einschenkte. Mit einem halb vollen Glas kam sie zurück ins Wohnzimmer. Sie setzte die Füße akkurat voreinander, wie eine Seiltänzerin, als brauche sie eine Linie, die sie führte. Im Gehen trank sie einen Schluck. Dann sagte sie ruhig und leise: »Dein Vater kannte die Studentin übrigens.«
Josi rieb sich den Zeh mit der Salbe ein. Beinahe wäre ihr herausgerutscht, dass sie das schon wusste. Das Brennen hatte ein bisschen nachgelassen. Sie konnte den ironischen Unterton in Marinas Stimme nicht ertragen. Am liebsten hätte sie gesagt: Du warst doch auch mal eine von denen.
»Der Kommissar hat uns gefragt, wo wir Samstag zwischen dreiundzwanzig Uhr und Mitternacht gewesen sind«, sagte Marina und lachte auf. »Er wird jetzt Thomas' Alibi überprüfen. Und alle Leute von der Party …« Sie sah Josi an. »Die meisten waren Kollegen von deinem Vater. Sie werden nun erfahren, dass
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