Lügenbeichte
Zettelkasten fiel herunter. Barbara bewahrte dort alle möglichen Postkarten auf. Nun lagen sie verstreut auf dem Boden. Josi rieb sich das Bein. Das würde bestimmt einen blauen Fleck geben.
»Wie geht es dir?«, fragte Max. »Ich konnte dich nicht erreichen. Hab mir schon Sorgen gemacht.«
»Ich bin okay. Aber sie haben meinen Vater verhaftet. Heute Morgen.«
»Kann doch nicht sein! Wieso das denn?«
»Die anderen beiden Zigarettenkippen, die sie an der Bushaltestelle gefunden haben, stammen von ihm.«
»Na und? Das heißt doch nichts. Dieser Holzkopf von Wagner wollte mich ja schon mit meiner Kippe festnageln. Das reicht nicht als Beweis.«
»Werner«, sagte Josi und sammelte nebenbei die Postkarten vom Boden auf. Es war auch eine DVD mit heruntergefallen. »Max, bitte, ich möchte jetzt nicht darüber reden. Ich habe Kopfschmerzen.«
»Soll ich vorbeikommen? Ich könnte dir eine Kopfmassage geben, so richtig schön zum Entspannen, ich …«
»Nein, ich glaub, ich leg mich jetzt erst mal hin.« Auf der DVD stand handgeschrieben: » Eat me , Version eins.«
»Josefine, ich vermisse dich!« Wie schön es klang, wenn er ihren Namen aussprach!
»Ich vermisse dich auch, Max!« Ach, könnte er doch jetzt, in diesem Moment, bei ihr sein!
»Dann lass mich doch vorbeikommen!«
»Nein, lieber nicht.« Dabei sehnte sie sich so sehr nach ihm, aber das konnte sie ihm jetzt nicht sagen, nicht, wo ihr Vater verhaftet war. Das stand ihr nicht zu!
»Heute Abend?«
»Ich brauche dringend einen ruhigen Abend.« Sie musste einen klaren Kopf behalten!
»Wir können es uns doch schön ruhig machen und gemütlich. Ach komm, Josi, das tut uns gut.«
Sie merkte, wie sie schon wieder schwach wurde. Max' Stimme im Ohr, die Vorstellung, in seinen Armen zu liegen, ihn zu küssen, zu streicheln … So hatte alles angefangen. Sie musste stark bleiben!
»Max, nicht heute Abend!« Sie konnte spüren, wie heftig die Worte gegen ihn prallten.
»Okay«, sagte er leise und dann sagte er gar nichts mehr.
Eat me , las sie noch mal auf der DVD. – Wo hatte sie das schon mal gehört?
»Max? – Es tut mir leid. Ich … «
»Schon gut. Ich verstehe ja, dass das alles ganz furchtbar für dich ist, und ich wollte dich ja auch nur ein bisschen ablenken von allem. Dich nicht drängen.«
»Ja. Das ist ja auch gut, aber …«
»Wann kann ich dich denn sehen?«
»Morgen, nach der Schule. Würdest du nach Kreuzberg kommen?«
»Ich würde überall hinkommen. Ich liebe dich, Josi.«
»Ich dich auch, Max.«
»Ruh dich aus, meine Schöne. Dann bis morgen. Aber telefonieren können wir heute noch, ja?«
»Ja, okay, später. Jetzt lege ich mich erst mal hin.« Sie steckte ihr Handy ein und bückte sich nach einer Postkarte, die unter das Tischchen gesegelt war. Eine Kirche war darauf zu sehen, darunter stand in geschwungenen weißen Lettern »St. Pauli Kirche Hamburg«. Witzig, St. Pauli war doch die sogenannte Sündenmeile von Hamburg. Die würde sie jetzt nicht gerade mit einer Kirche in Verbindung bringen. Josi drehte die Karte um und erkannte die kindlich krummen Buchstaben sofort. Die Wörter fingen groß an und wurden zum Zeilenende hin immer kleiner und gedrungener. Orthografie und Grammatik waren auf dem Stand einer Drittklässlerin. Kein Zweifel, es war eine Karte von Eva, der Mutter von Robert.
Diesmal schrieb sie: Hab mir heute die Haare braun gefärpt. Blond stet mir nämlich nich . Und paß ma auf daß Robert seine Müze aufseßt und nich so ville von die weißen Pralienen ißt!
Wie hartnäckig Eva das ß verwendete, gefiel Josi an den Karten. Ansonsten tat ihr die Frau leid, die ihr Leben durch Drogen verpfuscht hatte und kaum ein Wort richtig schreiben konnte.
Josi legte die Karte auf das Tischchen zurück. – Weiße Pralinen – damit meinte sie diese runden Dinger, mit Cremefüllung und Kokosraspeln, auf die Robert als Kindimmer so scharf gewesen war. Josi erinnerte sich noch genau an diesen Abend, wo er vor dem Fernseher eine ganze Schachtel in Windeseile verputzt hatte. Sie hatten eng aneinandergekuschelt auf dem Sofa gesessen und Josi hatte es gar nicht bemerkt, weil der Film so spannend gewesen war: Tom Sawyer und Huckleberry Finn . Später hatte Robert dann das ganze Sofa vollgekotzt.
Weiße Schokolade mit Kokosflocken – das war doch genau das, was Lou auch erbrochen und Herr Werner von ihrer Schulter gekratzt hatte, um es im Labor analysieren zu lassen. Und Lou hatte ihr von dem alten Mann erzählt, der ihm
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