Rain Wild Chronicles 01 - Drachenhüter
Prolog · Das Ende der Schlangen
PROLOG
Das Ende der Schlangen
S ie waren so weit gekommen, doch nun, als sie hier angelangt war, verblassten die Jahre des Wanderns bereits in ihrer Erinnerung und wichen den drängenden Erfordernissen ihrer verzweifelten Gegenwart. Sisarqua riss die Kiefer auseinander und streckte den Hals durch. Für die Seeschlange war es mühsam, sich zu konzentrieren. Seit Jahren war sie nicht mehr aus dem Wasser herausgekommen, und Festland hatte sie das letzte Mal unter ihrem Leib gespürt, als sie auf Anderland aus dem Ei geschlüpft war. Jetzt war sie fern von Anderland mit seinem heißen Sand und seinem milden Wasser. Über das dicht bewaldete Land zu beiden Seiten dieses eisigen Flusses fiel der Winter herein, und das morastige Ufer unter ihrem zusammengerollten Körper war fest und rau. In der kalten Luft trockneten ihre Kiemen rasch aus. Dagegen vermochte sie nichts anderes zu tun, als schneller zu arbeiten. Sie stieß ihre Kiefer in die riesige Grube und füllte ihr Maul mit silbrig schimmerndem Schlamm und Flusswasser. Dann warf sie den mächtigen Kopf zurück und schlang alles hinunter. Der lehmige Boden war mit Sand durchsetzt, kalt und auf eine eigenartige Weise köstlich. Noch ein Maul voll, noch ein Schluck. Immer wieder.
Längst zählte sie nicht mehr, wie oft sie von der sandigen Suppe geschlürft hatte, als schließlich der uralte Reflex sich in ihr regte. Während sie ihre Rachenmuskeln bewegte, schwollen ihre Giftsäcke an. Rings um ihre Kehle stellte sich eine fleischige Mähne auf, wie eine zitternde, giftige Halskrause. Das Beben wanderte bis zur Schwanzspitze hinab. Sie riss die Kiefer auseinander, presste und würgte. Dann drang die Masse aus ihr heraus, und sie klappte die Kiefer wieder zusammen, damit nur ein kräftiger, aber dünner Strahl aus Erde, Galle, Speichel und Gift hervorschoss. Mit einiger Mühe drehte sie den Kopf und wickelte ihren Leib dichter zusammen. Wie ein dicker zäher Silberfaden drang das Gemisch aus ihrem Maul, und mit kreisenden Kopfbewegungen überzog sie ihren aufgerollten Körper mit einer feuchten Schicht.
Sie spürte schwere Schritte herannahen, und kurz darauf fiel der Schatten eines Drachens auf sie. Tintaglia blieb bei ihr stehen und sprach zu ihr. »Gut, gut, so ist es recht. Erst einmal eine dünne, gleichmäßige Schicht ohne Lücken. So ist es recht.«
Sisarqua hatte keinen Blick für die blau-silberne Königin übrig, von der das Lob kam. Zu sehr nahm sie die Arbeit an der Hülle in Anspruch, die sie während der verbleibenden Wintermonate schützen würde. Das verzweifelte Bemühen entsprang ihrer Müdigkeit. Sie musste schlafen. Sie sehnte sich nach Ruhe. Doch sie wusste, dass sie niemals wieder erwachen würde, egal in welcher Form, wenn sie jetzt einschlafen würde. »Vollende die Hülle«, dachte sie bei sich. »Vollende die Hülle, dann kannst du ausruhen.«
Um sie herum, über das gesamte Flussufer verteilt, waren weitere Schlangen mit der gleichen Arbeit beschäftigt. Allerdings mit unterschiedlichem Erfolg. Zwischen ihnen schufteten Menschen. Einige schleppten Eimer mit Flusswasser. Andere stachen silbern schimmernden Lehm von einer nahen Böschung ab und luden sie auf Karren. Junge Burschen zogen die rumpelnden Karren zu der riesigen Grube, deren Wände hastig mit Baumstämmen abgestützt worden waren. Wasser und Erde wurden hineingekippt, und unten standen Menschen, die die größeren Erdbrocken mit Schau feln und Rudern zerkleinerten und aus Wasser und Erde eine Art Brei mischten. Von diesem Schlick hatte Sisarqua sich bedient, denn er bildete die Hauptzutat für ihre Hülle. Die anderen Zutaten waren mindestens genauso wichtig. Das Gift, das ihr Körper beigemengt hatte, würde sie in einen todesähnlichen Schlaf versetzen. Und mit dem Speichel gab sie auch ihre Erinnerungen in die Obhut der Hülle. Nicht nur ihre eigenen Erinnerungen an ihre Zeit als Schlange wob sie hinein, sondern sämtliche Erinnerungen ihrer Blutlinie wickelte sie wie Garn um sich herum.
Was fehlte, waren die Erinnerungen der Drachen, die den Schlangen eigentlich beim Bau ihrer Hüllen hätten beistehen sollen. Noch war Sisarqua sehr wohl bewusst, dass wenigstens zwanzig Drachen hätten anwesend sein müssen, die ihnen Mut zusprachen, ihnen den Erinnerungssand und die Erde vorkauten und mit ihrem hervorgewürgten Speichel ihre eigene Geschichte beitrugen. Aber sie waren nicht da, und Sisarqua war zu müde, um sich zu fragen, welche Folgen
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