Lukkas Erbe
ich durchschaut habe, was vorgegangen war in den neunzehn Monaten seit seiner Heimkehr. Viel zu spät fand ich heraus, wie Ben gelebt, was er erlitten hatte, wer an ihm interessiert gewesen war, aus welchen Gründen, und warum dann wieder vier junge Frauen und ein Mann sterben mussten wie im August 95 – mit dem großen Unterschied, dass der Mann, der getötet wurde, kein Mörder war wie Lukka.
Es gab Stunden, da fühlte ich mich so schuldig, wieBens Mutter sich nach dem schrecklichen Sommer schuldig gefühlt haben musste. Ich hatte verschwiegen, was ich im Frühjahr 96 zu begreifen glaubte. Ich hatte Ben zurückgebracht, ohne genau zu wissen, was im Sommer 95 tatsächlich geschehen war.
Und nun muss ich noch einmal sagen: «Ich habe mit allen gesprochen, die noch reden konnten.»
ERSTER TEIL
Schweigen
Ben
Im September 95 war er für mich nur ein Zeuge gewesen, der einen Mörder beobachtet hatte und nicht reden konnte. Sein Sprachschatz war äußerst dürftig. Er verstand viele Worte, doch die meisten wusste er nicht zu deuten. Sie verwirrten ihn, schwirrten um seine Ohren wie lästige Fliegen, die man nur ignorieren konnte, weil es nie gelang, sie zu fangen. Und viele waren falsch. Das hatte er im Laufe der Zeit erkannt.
Falsche Worte mochte er nicht. Er sprach nur solche aus, von denen er ganz sicher wusste, dass sie richtig waren. «Finger weg» waren alle schlechten Dinge. Damit waren Gegenstände wie ein Messer ebenso gemeint wie das Verhalten einer Person. «Fein macht» waren alle guten Dinge, ein Streicheln, ein Kuss, ein gelungenes Werk. «Weh», das war Schmerz.
«Fein» waren Frauen und Mädchen, die freundlich mit ihm umgingen. Seine Mutter natürlich, seine jüngste Schwester Tanja, Britta, Annette und Antonia Lässler und ein paar wenige mehr, viele waren es nie gewesen. Für all die anderen hatte er keinen Ausdruck, er sortierte sie nur in zwei Gruppen.
Zu dunkelhaarigen Frauen fasste er schnell Vertrauen, fühlte Verbundenheit und das Bedürfnis, sie zu schützen. Seine Mutter, seine jüngste Schwester und Antonia Lässler waren dunkelhaarig wie er. Die Blonden wie Antonias Töchter und ihre Nichte Marlene Jensen waren die schönenMädchen, widersprüchliche Geschöpfe, manchmal waren sie sehr freundlich zu ihm, manchmal überhaupt nicht.
«Freund» war immer nur Heinz Lukka. Der alte Rechtsanwalt hatte nie ein lautes Wort an ihn verloren und stets eine Süßigkeit für ihn gehabt. Ben hatte niemals einen anderen Mann als Freund bezeichnet, es hatten sich nur einige eingebildet, er täte es.
Und «Rabenaas» war kein Schimpfwort, wie ich annahm, als ich ihn im Lohberger Krankenhaus zum Schicksal der vermissten Frauen befragte und dachte, ich ginge ihm damit auf die Nerven. Rabenaas war ein regloser, blutiger Körper. Er hatte mir sofort gesagt, was mit Marlene Jensen und der jungen Amerikanerin geschehen war, er hatte mir auch den Mörder genannt. Das hieß, er konnte Auskunft geben, man musste nur wissen, wie zu interpretieren war, was er von sich gab.
Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus wurde er im November 95 für kurze Zeit in einer offenen Behindertenwohngruppe untergebracht. Es war nicht der richtige Platz für einen jungen Mann mit seinem Freiheitsdrang. Nachdem er zweimal ausgerissen war, wurde er in die Landesklinik eingewiesen, geschlossene Psychiatrie, die Abteilung für die schweren Fälle, weil er sich nicht festhalten lassen wollte und sich zweimal mit den Pflegern anlegte.
Er war stark, hatte bis dahin niemals einen erwachsenen Mann angegriffen, nicht einmal zurückgeschlagen, wenn er sinnlos verprügelt wurde. Er begriff doch nicht, warum er an so einem furchtbaren Ort sein musste. Niemand hatte es ihm erklärt.
Zu Hause war niemand mehr, der sich um ihn hätte kümmern können. Seine Mutter hatte einen schweren Herzinfarkt erlitten. Sein Vater glaubte, ihm nie mehr indie Augen schauen zu können, weil er ihn für den Täter gehalten und mit einem Schürhaken niedergeschlagen hatte, als er ihn in Lukkas Bungalow zwischen der Leiche des alten Rechtsanwalts und der schwerstverletzten jüngsten Tochter antraf.
Seine älteste Schwester Anita lebte in Köln, war als Juristin bei einer Versicherung beschäftigt und beruflich stark eingespannt. Seine zweitälteste Schwester Bärbel war im Dorf verheiratet und zum ersten Mal schwanger. Sie lebte im Haus der Schwiegereltern, dort wäre Platz genug gewesen. Aber Bärbel wollte ihren Bruder keinesfalls in der Nähe haben.
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