Lukkas Erbe
wegen der Obstbäume, zwischen denen wir in einer flachen Mulde drei notdürftig verscharrte Müllsäcke mit den Überresten Britta Lässlers gefunden hatten. Es war ein großes Grundstück, von zwei Meter hohem Stacheldraht umgeben. Die Männer von der Spurensicherung hatten seitlich ein Teilstück vom Zaun entfernt. Es war nicht ersetzt worden, offenbar fühlte sich dafür niemand zuständig. Die Lücke irritierte Ben. Er betrachtete erstaunt die Holzpfähle zu beiden Seiten, strich prüfend mit einem Finger darüber.
Es dauerte fast eine Minute, ehe er endlich weiterging, etwa sechs bis sieben Meter in die Wiese hinein. Er zeigte auf die Stelle zwischen den Apfelbäumen, an der Brittas Leiche gelegen hatte. Die flache Mulde war geschlossen worden und wieder bewachsen. Sie unterschied sich nicht mehr von der Umgebung. Aber es war exakt der Fundort.
«Fein?»
Eine Frage, das war nicht zu überhören. Trude wusste auch sofort, wem sie galt. «Britta ist nicht mehr hier», sagte sie. «Frau Halinger hat sie schon gefunden. Jetzt zeig uns, wo Lukka die anderen Mädchen hingelegt hat.»
Er nahm mir die Fotos aus der Hand und zeigte mit ausgestrecktem Arm zu einer tiefen Senke hinüber – der seit Jahren geschlossene Sandpütz. Ich dachte, er betrachte seinen Auftrag als erledigt. Enttäuscht war ich. Auf der Wiese konnte nichts sein, wir hatten sie mehrfach mit einem Leichenspürhund abgesucht, nicht nur die Apfelwiese, die ganze Umgebung.
«Das war wohl ein Irrtum», sagte ich.
Trudes Augen glitten zwischen ihm und mir hin und her. Es muss ein schwerer Kampf für sie gewesen sein. Sie hätte sich eine Menge ersparen können, hätte sie mir in dem Moment zugestimmt. Ben war frei, ohne Leichen gab es keine Beweise gegen sie und damit kein Strafverfahren. Ihr Geständnis allein, Gegenstände aus dem Besitz der Opfer verbrannt zu haben, war ohne Wert, sie konnte es jederzeit widerrufen. Ihre älteste Tochter Anita hatte ihr eine gute Strafverteidigerin beschafft, die dringend geraten hatte, Trude solle behaupten, diese Vernichtungsaktionen nur erfunden zu haben, um ihren Sohn aus der Psychiatrie zu holen.
Aber Trude fragte ihn: «Hast du die Mädchen weggenommen?» Und er nickte.
Großer Gott, dachte ich. Trude begann zu weinen. «Du dummer Kerl», stammelte sie. «Warum hast du das getan?»
Er bewegte unbehaglich die Schultern und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Ihre Tränen machten ihn nervös. Er verstand nicht, warum ein erwachsener Mensch weinte. Kleine Kinder weinten, wenn sie sich erschreckten, fürchteten, verprügelt wurden und starke Schmerzen hatten. Als Kind hatte er das auch getan, aber er hatte früh begriffen, dass sich nichts änderte, wenn man weinte. Nach ein paar Sekunden sagte er: «Fein macht.»
Ich wollte die Sache Trude zuliebe abkürzen und fragte: «Hat dir jemand gesagt, du sollst die Mädchen an einen anderen Platz legen?»
Es war nahe liegend, zu denken, er hätte in Lukkas Auftrag gehandelt. Trude hatte sich den Kopf zerbrochen, warum der alte Rechtsanwalt stets so freundlich mit Ben umgegangen war, ob er sich nur für einen bestimmten Zweck vor ihn gestellt hatte, wenn wieder maljemand aus dem Dorf meinte, es sei eine Schande, Ben frei herumlaufen zu lassen. Der Zweck schien jetzt klar auf der Hand zu liegen. Es musste doch jemand die Dreckarbeit machen und im Notfall den Kopf hinhalten. Hätte man Ben mit einer Leiche erwischt … Nur bei Britta Lässler hatte das dann nicht mehr funktioniert, weil Ben zum Zeitpunkt ihres Todes in seinem Zimmer eingesperrt gewesen war.
Trudes jämmerliches Weinen machte mich ebenso nervös wie ihn. Sie wusste genau, wie die Konsequenz aussah. Dass ich ihn zurückbringen musste in die Landesklinik. Und dafür hatte sie das alles auf sich genommen. «Bitte, Frau Halinger», schluchzte sie, «lassen Sie den armen Tropf nicht dafür büßen, dass ich ihn nicht verstanden hab. Er hat’s mir doch immer wieder gesagt.»
Jetzt könnte ich behaupten, ich hätte mir die Entscheidung sehr schwer gemacht. Das wäre eine Lüge. Ich musste nicht lange überlegen, hatte seit Januar unzählige Stunden mit Trude verbracht, mir angehört, was sie für ihren Sohn auf sich genommen hatte, durch welche Hölle sie gegangen war in den verfluchten Sommerwochen.
Immer wieder hatte sie mich angerufen, auch als längst schon alles von Bedeutung zu Protokoll genommen war. Immer wieder hatte mein Mann gewarnt: «Lass dich nicht so tief hineinziehen,
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