Lukkas Erbe
hatten sein Denken und Handeln geprägt. Das erste geschah im August 80. Damals war er sieben Jahre alt, als im Dorf ein Zirkus gastierte. Seine Mutter besuchte mit ihm eine Vorstellung, und die junge, blonde Artistin begegnete ihm sehr freundlich, nahm ihnmit in die Manege, ritt mit ihm zusammen auf einem Pony und küsste ihn auf die Wange. Bis dahin hatte er nicht sehr viel Zärtlichkeit erfahren, von seiner Mutter hin und wieder ein Streicheln oder einen Kuss auf die Wange. Allzu viel war das nicht, Trude Schlösser war ein eher spröder Typ. Und hübsche, junge Mädchen wie seine älteren Schwestern Anita und Bärbel machten einen Bogen um ihn.
Spät in der Nacht riss er aus, um die Ponys noch einmal zu sehen. Sie waren auf einer Wiese untergebracht, auf der später sein Freund Lukka den prächtigen Bungalow bauen ließ. Das schöne Zirkusmädchen war schon da, als er kam. Und wieder war sie freundlich, ließ ihn noch einmal reiten, küsste ihn noch einmal auf die Wange und begleitete ihn auf dem Heimweg, damit er nicht verloren ging.
Dann kam sein Freund Lukka, stach die Artistin mit einem Messer, machte mit ihr, was Ben Jahre später so oft bei anderen Paaren am Bendchen beobachtete. Und danach warf sein Freund sie in ein tiefes Loch, den Sandpütz. Ein Schacht von zwölf bis fünfzehn Metern Tiefe, am Ende glockenförmig erweitert.
Und Ben dachte, es könne nicht richtig sein, ein schönes Mädchen in dieses Loch zu werfen. Er sagte es seiner Mutter und anderen Leuten mit den Worten, die sein Freund benutzt hatte. «Rabenaas kalt.» Er zeigte es ihnen auch mit Puppen. Und immer wurde er dafür verprügelt.
Zwei Jahre später beobachtete er seine Schwester Bärbel und ihren Freund in einer ihm ähnlich erscheinenden Situation. Er wollte Bärbel beistehen, schlug ihrem Freund einen Stein auf den Kopf und wurde von Bärbel mit einem Knüppel zusammengeschlagen. Danach stürzte er in den Sandpütz, der zu diesem Zeitpunkt glücklicherweisebis auf einen Rest von drei Metern aufgefüllt war. Eine bange Nacht hatte er in der Tiefe verbracht, war erst am nächsten Tag von der Freiwilligen Feuerwehr Lohberg geborgen worden.
Und seitdem hatten die Männer mit Leitern und einem Korb für ihn eine ganz besondere Bedeutung. Welche, das wusste niemand, ich konnte es nicht einmal ahnen. Er hatte den großen Unterschied zwischen Mädchen und Puppen erkannt. Puppen waren kaputt, wenn man sie zerriss oder mit einem Messer aufschnitt. Die Mädchen kamen irgendwann zurück.
Er hatte das schöne Zirkusmädchen wieder gesehen – lange Zeit später – in Gestalt von Marlene Jensen, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit der seit 1980 verschollenen Artistin hatte. So wie ihn mussten die Männer mit Leitern und einem Korb auch sie aus dem tiefen Loch geholt haben.
Ihn erstaunte es nicht, dass Menschen, die schon einmal blutend am Boden gelegen hatten und darin verschwunden waren, plötzlich wieder herumliefen. Mit unzähligen Ratten und Mäusen hatte er schon eine ähnlich wundersame Auferstehung erlebt.
Sie lagen auf Feldwegen, einem Acker, im Bendchen oder im Bruch und bewegten sich nicht mehr, wenn er sie fand. Manchmal fielen sie sogar auseinander, wenn er sie aufhob. Aber wenn er sorgfältig jedes Knöchlein aufsammelte und alles an den dunklen Ort trug, den vergessenen Gewölbekeller unter den Trümmerbergen, liefen bald wieder Mäuse und Ratten herum.
Für Menschen brauchte es natürlich andere Voraussetzungen, tiefe Löcher, aus denen die Männer mit Leitern und einem Korb ihnen wieder heraushelfen konnten. So sah er die Sache.
Vielleicht war – wie viele glaubten – die geschlossenePsychiatrie der einzig richtige Platz für einen jungen Mann, der nicht die geringste Vorstellung von der Endgültigkeit des Todes hatte. Aber welche Vorstellungen er hatte, wusste noch niemand.
Und bei den weißen Leuten an dem schlimmen Ort hatte er bald gar keine mehr. All die Bilder in seinem Kopf wurden grau und zäh. Er brauchte sie bunt und lebendig, um sich zu orientieren, all das Schöne und weniger Schöne jederzeit wieder zu erleben, um all das Verworrene und Mysteriöse vielleicht doch noch irgendwann zu entschlüsseln und zu begreifen, warum es manchmal so und manchmal anders war.
Dass sie ihm eine Jacke anzogen, in der er seine Arme nicht bewegen konnte, dass sie ihn am Bett festbanden und mit Nadeln stachen, obwohl er keine Schmerzen hatte, hätte er noch hinnehmen können. Aber dass sie ihm seine Bilder stahlen,
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