Luna, Seelengefährtin - mein Hund, das Leben und der Sinn des Seins
die Bewältigung des Alltages aufwändig und manchmal schwierig ist, alles viel länger dauert und oftmals langer Planung bedarf. Bis zu ihrem neunzehnten Lebensjahr war Ines Kiefer eine »normale«, wenn auch herausragend fröhliche junge Frau, das ist sie heute noch, und ihrem Charme kann sich kaum jemand entziehen. Sie liebte das Tanzen und war neugierig und offen, engagiert in ihrer Lehre im Hotelfach und zum ersten Mal so richtig verliebt. Bei einer Routine untersuchung wurde ein undefinierbares Ding in ihrem Brust korb nah der Wirbelsäule festgestellt, und man riet ihr, es entfernen zu lassen, obwohl es ihr keine Probleme bereitete. Womöglich hätte es nie Probleme gemacht oder erst jenseits der vierzig, wenn überhaupt. Ines holte keine zweite Meinung ein, warum auch, es war doch nur ein kleiner Eingriff? Sie ging frohgemut in die Klinik, half den alten Damen in ihrem Zimmer, rannte hin und her, brachte Tee und Zeitungen vom Kiosk, wurde operiert, wachte auf und … spürte ihre Beine nicht mehr. Spürte auch ihren Bauch nicht mehr, nur einen seltsamen Ring wie ein zu stramm gezogener Gürtel um den Brustkorb. Das war die Stelle, wo die Lähmung begann.
Ines verlor alles. Ihre Lehrstelle, den Freund, die Wohnung, ihre Träume, Wünsche, Perspektiven; ihr ganzes vorheriges Leben. Mit ihrem Hund Marcky, den sie kurz vor der Operation aus dem Tierheim geholt hatte, zog sie in eine Parterrewohnung und begann schließlich eine Bürotätigkeit. Sie verliebte sich in einen »Gehenden«, hätte ich früher geschrieben, doch nun lernte ich, dass es Fußgänger hieß. Sie heira tete, bekam ein Kind, was sehr mutig war, denn es gibt wenige Frauen, die sich das trauen. Die meisten Mütter im Rollstuhl bekamen ihre Kinder als Fußgänger. Ines plante lang und gründlich, wie sie dieses Kind versorgen könnte. Noch mutiger geworden, ließ sie sich scheiden, als die Beziehung nicht mehr funktionierte, begann ein Studium und war nun alleinerziehende Mutter, Studentin und zweifache Hundebesitzerin, denn ihr Exmann hatte seinen zweiten Hund auch noch bei ihr abgestellt. Sie verliebte sich erneut in einen Fußgänger, heiratete ihn und bekam einen zweiten Sohn. Zwischendurch schloss sie ihr Studium ab und bewarb sich einfach mal so zum Spaß bei einem Fotomodell-Wettbewerb für Rollstuhlfahrerinnen. Sie gewann und startete eine kleine Karriere als Fotomodell.
Ich habe selten einen solch lebensbejahenden Menschen wie Ines kennengelernt. Ihre Persönlichkeit passt zu einer Untersuchung, die besagt, dass die Lebenszufriedenheit eines Menschen durch eine schwere Krankheit nicht dauerhaft getrübt werden kann. Wenn der Schicksalsschlag verdaut ist, haben die Menschen danach die gleiche Lebenszufriedenheit, die sie zuvor hatten. Ines hat kein einziges Buch über die Kunst, glücklich zu leben, gelesen. Aus eigener Kraft hat sie ihr Leben ins Rollen gebracht.
Als ihr erster Hund Marcky im Alter von sechzehn Jahren eingeschläfert werden musste, war das ein schrecklicher Schmerz für sie, der über den Abschied von einem geliebten Haustier weit hinausreichte. Marcky war der letzte verbliebene Zeitzeuge in ihrem Leben. Ihn hatte sie auf ihren eigenen Beinen aus dem Tierheim geholt. Seine Leine hatte sich um ihre Knie gewickelt, auf ihren eigenen kräftigen Tänzerinnenbeinen stand sie vor ihm, und er sprang an ihr hoch, sodass sie ein paar Schritte zurückwich. Von oben bückte sie sich zu ihm herab und streichelte ihn. Und dann liefen sie einfach los, setzte sie einen Fuß vor den anderen, Marcky neben ihr, und später, als er sich eingewöhnt hatte, machte sie die Leine los, und sie rannten um die Wette. Immer gewann Ines, weil Marcky zwischendurch buddeln musste.
Ich stelle mir vor, Leander hätte Luna gekannt. Ich glaube, dann hätte er in dem Hund ein bisschen weitergelebt für mich.
An Lunas zwölftem Geburtstag gehen Johannes und ich abends ausnahmsweise eine kleine Runde mit ihr. Lunas Tag ist in dieser Jahreszeit für gewöhnlich am Nachmittag beendet. Nach dem Fressen schläft sie bis auf wenige kurze Aufwachphasen und eine Pinkelpause im Garten bis zum nächsten Morgen durch. Dabei scheint sie manchmal mehr zu erleben, als wenn sie wach ist, wie wir ihren zuckenden Pfoten und Ohren, ihrem japsenden Bellen und Wedeln zu entnehmen glauben. Wie gerne würde ich Mäuschen spielen in ihren Träumen und mich dafür sogar fressen lassen.
Wir schauen ihr beim Schnuppern unter einer Laterne zu und rufen sie schließlich. Sie
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