Luna, Seelengefährtin - mein Hund, das Leben und der Sinn des Seins
in der Luft. Der Wagen wackelt. Ich kann nicht hinschauen. Es ist Wahnsinn. Aber ich will nicht denken, was passieren könnte. Ich will mich freuen, dass es ihm Spaß macht. Und Luna wird es wohl auch Spaß machen, sonst hätte sie bestimmt mal gejammert. Immer müssen die beiden auf mich warten. Ich bremse im Gefälle. Wenn ich die zwei dann einhole, lehnt Johannes an einem Baum, Luna schaut fragend nach hinten, wo ich denn bleibe. Mir geht das Herz auf. Das ist mein Rudel.
»Drei Monate ist der Schlangenbiss nun her«, sinniert Johannes.
»Es kommt mir vor wie gestern«, erwidere ich.
Johannes nickt. Schon oft haben wir festgestellt, dass die Zeit immer schneller zu verstreichen scheint, je älter wir werden.
»Das, was jetzt ist«, sagt Johannes, »ist quasi der Bonustrack.«
Der Ausdruck gefällt mir. Ich stimme zu und ergänze im Stillen, was für mich alles zu diesem Bonustrack dazugehört. Ich nehme Luna wieder bewusster wahr, ich habe mich wieder einmal gefragt, was wirklich wichtig ist im Leben. Ich habe noch einmal erfahren, wie kostbar jeder Augenblick ist, so kostbar, dass es sich lohnt, immer wieder aufs Neue zu versuchen, wenigstens hin und wieder im Jetzt zu sein. Und ich schreibe dieses Buch, das ich ohne den Schlangenbiss kaum begonnen hätte.
Am Tag nach Lunas Geburtstag gehe ich bei meinem alten Wohnort Gassi. Schon lange sehne ich mich nicht mehr hierher zurück, doch es ist schön, die Erinnerungen auferstehen zu lassen, die ich mit diesem Ort verbinde. Und die Menschen, mit denen ich hier spazieren ging, sowie ihre Hunde. Oskar, Claudias Hund, ist vor zwei Jahren gestorben. Sie möchte kei nen Hund mehr: »Je älter man wird, desto schlimmer werden die Abschiede. Als junger Mensch konnte ich den Tod eines Tieres besser verkraften. Jetzt reißt er eine solche Lücke, nein, es ist ein Loch, und es heilt nicht mehr.«
Ob das Herrchen von Merlin einen neuen Hund hat, frage ich mich, als wir am Grab des Hundes an der Pferdekoppel vor beilaufen. Wenn ich morgens joggte, war das Merlin-Herrchen von der Frühschicht nach Hause gekommen, lief noch eine Runde mit dem Hund und legte sich dann schlafen. »Einen schönen Tag«, wünschte er mir und ich ihm »einen erholsamen Schlaf«. Dann sah ich die beiden plötzlich nicht mehr. Ich erkundigte mich und erfuhr, dass es ganz schnell gegan gen war. Innerhalb von drei Tagen: Diagnose Krebs. Man hatte Merlin nichts angemerkt, bis er zusammengebrochen war. Im November wurde er beerdigt auf der Pferdekoppel, der Bruder seines Herrchens spielte Trompete, lang und klagend stachen die Töne durch den Nebel, und wenn ich an den folgenden Tagen an der Koppel vorbeiging, hörte ich sie noch immer. Das Herrchen von Merlin verpasste ich, doch ich wusste, dass er das Grab besucht hatte, denn es brannte immer eine Kerze.
Im Dorf machte man sich über ihn lustig. Früher hätte ich mitgemacht. Heute schäme ich mich für meine Hartherzig keit. Wäre es nicht vielmehr ein Grund, sich über einen wie das Herrchen von Merlin zu wundern, wenn er nicht trauerte? Er hatte vielleicht seinen besten Freund verloren.
»Dass mir mein Hund das Liebste sei,
sagst du, oh Mensch, sei Sünde,
mein Hund ist mir im Sturme treu,
der Mensch nicht mal im Winde.«
Franz von Assisi
Lebensabend
I ch maile der Tierärztin, dass Luna die maximale Haltbarkeit laut ihrer Diagnose überschritten hat. Die Tierärztin bleibt eine gute und schreibt zurück, dass sie sich freut. Nun könne Luna einen schönen Lebensabend genießen.
Lebensabend. Das Wort in seiner beschaulichen Hülle gefällt mir nicht. Nach dem Abend kommt die Nacht. Niemand weiß, ob am nächsten Tag die Sonne aufgeht. Ich sollte den Tatsachen ins Auge sehen und mich in keiner falschen Sicherheit wiegen. Luna hat einen Schlangenbiss überstanden, sie ist in keinen Jungbrunnen gefallen. Es mag Gifte geben, die kurz fristig verjüngend wirken wie Botox. Luna ist zwölf Jahre alt. Sie soll alt werden dürfen. Wir alle sollen alt werden dürfen. Und vor allem soll sich niemand schämen müssen, wenn ihm das ärgerliche Missgeschick Alter passiert.
An Energie hat es mir nie gemangelt. Zappelphilipp nannte man mich als Kind, bei mir musste sich immer was rühren, ich konnte nie genug bekommen vom Rennen und Toben, Stillsitzen war eine Qual. Allein beim Schreiben klappte das gut, da rannte ich in meiner Fantasie. Mit zwölf Jahren begann ich meinen ersten »Roman«, die Geschichte von einem Mädchen, das sich in der Puszta
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