Lustig, lustig, tralalalala
muss er mich ja jetzt nicht obendrein noch vorführen. Vielleicht hat er auch ein schlechtes Gewissen, weil ich mich freimütig und vorbehaltlos dazu entschlossen habe, ihm zu helfen. Wie dem auch sei, mir wäre es ganz lieb, wenn ich nicht zum Gespött der Leute würde.
Im Heim erwartet mich eine Hiobsbotschaft. Meine Mutter ist weg.
«Was soll das heißen: Sie ist weg? Mütter kommen doch nicht so einfach weg», ereifere ich mich.
Die sichtlich zerknirschte Stationsleiterin macht einen hilflosen Eindruck. «Wir haben schon überall nach ihr gesucht. Polizei und Krankenhäuser sind informiert. Bislang ist sie leider noch nicht aufgetaucht.»
Ich verbringe den Nachmittag damit, Bekannte und Verwandte zu informieren, der Polizei detaillierte Auskünfte über meine Mutter zu geben und zwei Krankenhäuser aufzusuchen, in denen verwirrte Frauen im entsprechenden Alter eingeliefert wurden. Beide Male handelt es sich glücklicherweise um Fehlalarm. Es ist bereits dunkel, als ich den Heimweg antrete. Ein freundlicher Polizist hat mir glaubhaft versichert, dass ich definitiv nichts mehr tun kann und mir nun ein wenig Ruhe gönnen soll.
Als ich meinen Hausflur betrete, traue ich meinen Augen nicht. Ein Mann eilt die Treppe hinunter und damit geradewegs auf mich zu. Es ist jener Kerl, der sich mir gegenüber als Weihnachtsmann ausgegeben hat. Ein schöner Zufall, denn dann kann ich ihm gleich mal die Hammelbeine langziehen.
«Ho! Ho! Ho!», sage ich spöttisch.
Er sieht mich und scheint höchst erfreut. «Felix! Da bist du ja endlich! Gott sei Dank. Ich kann keine Minute länger warten.»
Verständlich, dass er es eilig hat. Ich an seiner Stelle hätte auch keine Lust, mir jetzt eine saftige Abreibung zu holen.
«Oben ist alles vorbereitet», erklärt er hektisch. «Deine Mutter wartet schon sehnsüchtig.»
«Meine … Mutter», sage ich verdattert.
Er lächelt. «Kleine Aufmerksamkeit von mir, weil du Karl geholfen hast. Frohe Weihnachten, Felix!»
Bevor ich etwas erwidern kann, hat er das Haus verlassen.
Ich beeile mich, in die fünfte Etage zu kommen, weil dort ein Geisteskranker, der sich für den Weihnachtsmann hält, meineverwirrte Mutter allein zurückgelassen hat. Vielleicht klettert sie gerade über die Balkonbrüstung, vielleicht zündet sie auch die Wohnung an.
Keuchend erreiche ich mein Apartment, öffne die Tür und traue meinen Augen nicht. An einem reichgedeckten Tisch, in dessen Mitte ein Weihnachtsbraten thront, sitzt meine Mutter und strahlt mit dem hinter ihr stehenden Weihnachtsbaum um die Wette.
«Ich wusste, dass du es nicht vergessen würdest», sagt sie. «Aber ich hätte nie gedacht, dass du dir die Mühe machst, mich vom Weihnachtsmann persönlich abholen zu lassen.»
«Ähm … ja», sage ich. «Gern geschehen. Freut mich jedenfalls sehr, dass du da bist.»
«Setz dich, mein Junge. Sonst wird alles kalt. Dein Vater kommt später. Er hat angerufen. Wir sollen schon mal ohne ihn anfangen.»
Ich nicke. «Ich muss nur noch ganz kurz jemanden anrufen.»
Derweil ich die Nummer ihres Altenheimes wähle, zwänge ich mich auf meinen winzigen Balkon.
Bevor die Verbindung zustande kommt, klingelt mein Handy. Die Nummer von Karls Kneipe erscheint im Display.
«Kannst du eine Weihnachtsgeschichte schreiben?», fällt er mit der Tür ins Haus. «Aber keine Kunstsprache! Eine Freundin von einer Freundin, die bei einem Verlag arbeitet, sucht Weihnachtsgeschichten für eine Anthologie, und da dachte ich …»
«Karl, ist grad ein bisschen schlecht. Meine Mutter ist zu Besuch.»
«Oh! ’tschuldige! Sag das doch! Komm einfach morgen vorbei. Wir reden dann über alles. Bei einem Guinness.»
«Gern. Danke.»
«Ich hab zu danken, Felix.»
Erneut will ich die Nummer des Altenheimes wählen, da steckt meine Mutter den Kopf durch die Tür. «Kannst du mal kurz kommen? Der Weihnachtsmann möchte sich verabschieden.»
Ich stutze, packe das Handy weg, betrete meine Wohnung und lasse mich von meiner Mutter zum Dachfenster führen.
Über dem Haus schwebt die Kutsche des Weihnachtsmannes. Gezogen wird sie von ein paar Straßenkötern, einem Schwein, zwei Ziegen, drei Pinguinen, einer Katze und einem Esel.
Santa Claus, der in seinem billigen grauen Anzug abgekämpft, aber zufrieden wirkt, ruft: «Was hältst du von meiner neuesten Konstruktion, Felix?»
«Ist das nicht wunderschön?», fragt meine Mutter und lächelt selig.
Ich nicke ungläubig. «Großartig», sage ich.
Santa Claus lacht
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