Lux perpetua
Der Antichrist, Ihr lieben Herren und Zuhörer, wird vom Stamme Dan sein.
In Babylon wird er geboren werden. Am Weltenende wird er erscheinen, ein halbes Viertel eines Jahres wird er zu herrschen
vermögen. In Jerusalem wird er einen Tempel erbauen, die Könige gewaltsam unterdrücken und Gottes Kirche ruinieren. Auf einem
Feuerofen wird er daherfahren und überall seltsame Werke tun. Er wird seine Wunden zeigen und damit die gläubigen Christen
täuschen. Er kommt mit Feuer und Schwert, Gotteslästerung wird seine Macht sein, seine Schultern die Abtrünnigkeit, sein rechter
Arm die Vernichtung und sein linker Arm das Dunkel. Sein Antlitz ist das eines wilden Tieres, mit hoher Stirn und zusammengewachsenen
Brauen
. . .
Sein rechtes Auge geht auf wie der Morgenstern, das linke ist starr und grün wie das einer Katze und hat statt einer Pupille
zwei. Seine Nase ist wie ein Abgrund, der Mund ist eine Elle hoch und die Zähne eine Spanne breit. Seine Finger sind wie eiserne
Sensen
. . .
Was denn, was denn! Was schreit Ihr denn einen alten Mann so an, werte Herren? Warum müsst Ihr denn gleich drohen? Wozu, weshalb?
Ich erschrecke Euch? Ich lästere? Ich krächze das Unglück herbei wie ein Rabe? Keinesfalls, Ihr werten Herren, ich krächze
nichts herbei! Ich sage nur die Wahrheit, die heilige, reinste Wahrheit, wie sie von den Kirchenvätern beglaubigt wird. Ja,
sogar in den Evangelien bewiesen wird! In den Apokryphen? Was macht das schon, wenn’s in den Apokryphen ist? Diese ganze Welt
ist doch apokryph!
Was bringst du denn herbei, liebes Mädchen? Was schäumt denn da in den Krügen? Doch nicht etwa Bier?
Ach, vorzüglich
. . .
Schweidnitzer, da gehe ich doch wohl nicht fehl
. . .
Holla! Schaut doch mal aus dem Fenster, Ihr Herren! Sollte mich, einen alten Mann, etwa mein Blick trügen? Scheint es mir
nur so, oder spitzt endlich die Sonne hinter den Wolken hervor? Bei Gott, ja! Endlich, endlich ist’s vorbei mit dem Regen
und dem miesen Wetter. Wahrhaftig, seht doch nur, da umhüllt ein Glanz die Welt und strömt in hellem Goldstrahl vom Himmel
herab. Und das Licht wird gewaltig sein
. . .
Lux perpetua.
Das wünscht man sich doch. Das ewige Licht. Das wünscht man sich
. . .
Was sagt Ihr? Jetzt, wo der Regen aufhört, reicht’s mit dem Herumsitzen in der Schenke, wird es Zeit, sich auf den Weg zu
machen? Und deshalb soll ich nicht herumschwatzen, sondern einen Zahn zulegen, um zum Ende zu kommen? Zu Ende erzählen, wie
es weitergegangen ist mit Reynevan und seiner geliebten Jutta, mit Scharley und Samson in jener Zeit, in der Zeit jener grausamen
Kriege, als das Blut in Strömen floss und Asche die Erde der Lausitz, Schlesiens, Sachsens, Thüringens und Bayerns schwarz
färbte? Sogleich, Ihr Herren, sogleich. Ich werd’s Euch schon erzählen, denn jede Erzählung strebt ja ihrem Ende zu. Aber,
auch das muss ich Euch sagen, wenn Ihr auf ein glückliches oder gar fröhliches Ende der Erzählung hofft, muss ich Euch enttäuschen
. . .
Was denn? Ich erschrecke Euch schon wieder? Ich krächze? Ach, sagt doch selbst, wie soll man denn da nicht krächzen wie ein
Rabe? Wenn sich in der Welt solche entsetzlichen Dinge zutragen? Wenn ganz Europa von Kampfeslärm widerhallt, seht doch nur
mal?
Vor Paris wird das Blut auf den Schwertern der Franzosen und Engländer, der Burgunder und der Armagnacs nicht trocken. Immer
noch dauern Mord und Brand auf französischerErde an, immer noch ist Krieg, wie Ovid sagt. Soll der womöglich gar hundert Jahre dauern?
England brodelt über von Revolten, Gloucester liefert sich Kämpfe mit Beaufort. Böses wird daraus entstehen, Ihr werdet noch
an meine Worte denken, oh, Böses zwischen York und Lancaster, zwischen der Weißen und der Roten Rose.
In Dänemark donnern die Geschütze, Erich XIII., Herzog von Pommern, streitet mit der Hanse, verbissen bekämpft er die Herzöge
von Schleswig und Holstein. Das bewaffnete Zürich hat sich gegen andere Kantone erhoben und bedroht die Einheit der Eidgenossenschaft.
Mailand liegt im Kampf mit Florenz. In Neapels Straßen wüten die Eroberer, die Soldaten Aragons und Navarras.
Im Großfürstentum Moskau tanzen Schwerter und Fackeln, Vasilij II. liegt in verbissenem Kampf mit Jurij Dmitrievič, Vasilij
Kosoj und Dmitrij Šemjaka.
Vae victis!
Die Besiegten weinen rote Tränen aus blutigen Augenhöhlen. Der wackere Johannes Hunyadi kämpft erfolgreich gegen die Osmanen.
Árpáds Kinder
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