Werwelt 02 - Der Gefangene
Prolog
Hätte Marsh John jene Lehren des alten Griechen Heraklit gekannt, so hätte er mit ihm darin übereingestimmt, daß im Leben alles fließt. Was bei Marsh John allerdings floß, war eine Flüssigkeit, so klar, daß man bei Mondlicht durch sie hindurch die Zeitung lesen konnte, zu haben für eineinhalb Dollar die Flasche. Am Rande eines jener austrocknenden Seen, die Michigan sprenkeln wie Sumpflöcher die grünen Auen Irlands, hatte John seinen Apparat in einer Hütte stehen, die durch einen Windbruch abgestorbener Bäume verborgen war. Er war recht stolz auf sein Geschäft und auf die Tatsache, daß er es mit Hilfe eines schwachsinnigen Jungen betrieb, der unfähig gewesen wäre, die Polizei zu der Brennerei zufuhren, selbst wenn man ihn mit einem ganzen Lieferwagen voll Flaschen erwischt hätte. Auf Bemerkungen, daß das Alkoholverbot demnächst aufgehoben werden würde, pflegte John nur weltweise zu sagen, »trinken müssen die Leute immer«, und die Regierung zu beschimpfen.
An diesem Abend jedoch, als er von einem festen Grasbüschel zum anderen durch den Sumpf sprang, hatte Marsh John anderes im Kopf. Seit dem vergangenen September waren ihm immer wieder merkwürdige Spuren aufgefallen, die von einem großen Bären hätten stammen können, und an diesem Abend hatte er gleich zwei solcher Spuren nebeneinander entdeckt. Sie führten im Kreis um eine Insel im Sumpf auf der dichtgedrängt eine Gruppe Fichten stand, deren untere Zweige zu einem stacheligen Dickicht verflochten waren. Gestärkt durch eine halbe Flasche seines eigenen Erzeugnisses, ging Marsh John, als er die Insel erreichte, in die Knie. Im Dunkeln gab es keine andere Möglichkeit, das struppige Gewirr von Fichtenästen zu durchdringen, als auf allen Vieren zu kriechen, und John wurde sich seiner Wehrlosigkeit, während er sich da durchs finstere Unterholz schob, so bewußt, daß seine Arme zu zittern begannen. Deshalb hockte er sich einen Moment nieder, um zu verschnaufen und noch einen Zug aus der Flasche zu nehmen.
»Riechen kann man sie nicht«, flüsterte er, während er die kleine Flasche wieder einsteckte. »Aber sie sind hier drin – die einzige Stelle, wo sie sein können.«
Er wollte gerade wieder losrobben, als ein Laut, oder besser eine Vielfalt von Lauten, ihn veranlaßte, die Büchse zu packen, die auf dem nadeligen Boden lag, und sie zu entsichern. Irgendwo auf der Insel knurrten Tiere, und nicht so, als bereiteten sie sich zum Kampf vor, oder als wollte einer dem anderen das Recht an der Beute streitig machen. Für den jetzt geängstigten und halbbetrunkenen Mann, der unter dem Baldachin verschlungener Fichtenäste hockte, hörte es sich an, als redeten sie miteinander; nein, vielleicht beinahe so, als wollten sie einander mit diesen tiefen, brummenden und knurrenden Tönen und den langgezogenen Wimmerlauten etwas vorsingen. Immer mehr schwollen die Töne an, bis sie wie ausgehaltene Musikakkorde miteinander zu verschmelzen begannen, und der lauschende Mann spürte, daß ein Kribbeln wie von Elektrizität ihm vom kalten, nassen Gesäß den Rücken hinauflief bis unter seine Kopfhaut, so daß seine Mütze sich über den aufgerichteten Nackenhaaren hochschob. ›Was zum Teufel ‹ wollte er sagen, doch seine Kehle war plötzlich wie ausgedörrt, und seine Augen starrten sinnlos in die Dunkelheit. Der lange Stab der starken Taschenlampe ragte in die Nacht hinein wie ein Wegweiser, direkt auf die Geräuschquelle, doch John war unfähig, seinen Daumen zu bewegen, um sie einzuschalten.
Seine Haut prickelte, als sich die Luft rund um ihn herum mit Elektrizität auflud, und mit Entsetzen sah er zu, wie die Taschenlampe, sein Arm, der Schirm seiner Mütze und jeder Ast im Wald in einem kalten grünen Feuer zu leuchten begannen, das sich knisternd kräuselte. Und dann kam eine Eruption von Licht und Schall. Ein heftiger Windstoß packte den Mann, schleuderte ihn hintüber, das lehmige Ufer hinunter ins kalte Sumpfwasser. Instinktiv grapschte er nach der Büchse und war schon ein Stück aus dem bitterkalten Wasser heraus, als plötzlich Lichter zwischen den Bäumen aufstiegen, ein wirbelnder Rummelplatz aus den Tiefen des Sumpfs, singend und klingend von einer Musik, die engelhaft und satanisch zugleich zu sein schien. Marsh John sah die Formen emporschweben wie vielfarbene Banner, die nicht von dieser Welt waren, einander umschlingend wie lebende Wesen, während ihr Glanz sich in einem Funkenregen fieberglühender Leuchtkraft aus
Weitere Kostenlose Bücher