Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
unter ihren Händen hervorzuwinden. Eines musste man dem Tier jedoch lassen. Es bewies Ausdauer.
Mit starrem Gesichtsausdruck beobachtete die Besitzerin der Katze die Szenerie. Die ältere Dame wurde blass, als ihr Liebling ein bedrohliches Grollen ausstieß, das in einem lauten Aufschrei mündete.
„Ganz ruhig, meine Kleine“, versuchte Joli die getigerte Patientin zu beruhigen. Aber diese konnte oder wollte nicht verstehen. Und Jolis Stimme klang trotz ihrer Worte alles andere als ruhig.
Doktor Mark setzte die Spritze an. Keine Sekunde später erklang ein ohrenzerschmetternder Schrei, der sogar eine professionelle Tierarzthelferin mit vierjähriger Berufserfahrung in verschiedenen Praxen zusammenzucken ließ. Wer schon einmal paarungsbereite Katzen in der Nacht schreien gehört hatte, der wusste, über welches Stimmvolumen diese Tiere verfügten.
„Sehr tapfer“, lobte Dr. Mark mit einem ironischen Lächeln, und betrachtete stolz die kleine Blutampulle, die er Frau Blumenburg wie eine Trophäe präsentierte. Diese wurde nun noch bleicher und wedelte sich rasch mit der Hand frische Luft zu.
„Ich ... ich muss mich setzen“, sagte sie und ließ sich auf einen Stuhl in der Nähe fallen, der unter ihrem Gewicht bedrohlich knarrte.
Joli setzte die Katze in ihr Körbchen zurück, was dieser auch nicht recht gefiel und mit einem Fauchen quittierte.
Als Joli an sich herunter sah, entdeckte sie einen Fleck auf ihrem blauen Tierarztoverall, den die Katze in ihrer Panik hinterlassen hatte. Sie gab Dr. Mark ein Zeichen und verschwand auf die Toilette, um den Urin mit einem feuchten Tuch auszuwaschen. Ihr Blick fiel in den Spiegel, aus dem ihr eine zierliche Frau mit köterblonden Haaren, die zu allen Seiten abstanden, und einer übergroßen Brille entgegen blickte. Die Gläser waren milchig und ließen ihre Haut bleich erscheinen.
Vorsichtig nahm Joli das Bernsteingestell ab und polierte die Augengläser mit dem Ärmel ihres Overalls. Ohne Brille konnte sie nur sehr schlecht sehen. Kontaktlinsen kamen jedoch nicht infrage, da sie Angst vor dem Einsetzen hatte. Sie hatte es probiert, doch nachdem sich eine Linse an ihrem Auge festgesaugt hatte und nur mit Mühe und Not wieder abgegangen war, hatte sie entschieden, lieber zu ihrer Kurzsichtigkeit zu stehen und ihre Brille zu tragen.
Joli setzte sie wieder auf und betrachtete sich von allen Seiten. Heute war einer dieser Tage, an denen sie ganz und gar nicht mit ihrem Aussehen zufrieden war. Aber welche Frau war das schon, von ihrer Kollegin und besten Freundin Karla abgesehen, die in Jolis Gegenwart nie über Problemzonen oder Diäten sprach.
Joli beugte sich vor und strich eine Strähne aus ihrem Gesicht. Es gab Momente, in denen sie Karla beneidete. Nicht nur, weil diese eine funktionierende Beziehung führte, sondern auch weil sie mit ihrem Leben zufrieden war. Sie hatte viele Freunde, einen Verlobten, den sie nach eigener Aussage wie am ersten Tag liebte, und das nötige Kleingeld um drei Mal im Jahr zu verreisen. Joli verbrachte die meisten Abende zuhause. VonKarla abgesehen hatte sie nicht viele Freunde und es boten sich selten Gelegenheiten auszugehen. Hin und wieder begleitete sie ihre Adoptiveltern zum Kegeln, wenn der Verein zu einem Freundschaftsspiel eingeladen war. Joli mochte Kegeln, war allerdings keine Sportskanone und wollte auch kein festes Mitglied werden. Ihre Adoptivmutter schien instinktiv zu spüren, dass Joli einsam war, und versuchte sie zu ermutigen, öfter etwas zu unternehmen, um nette Leute kennen zu lernen, anstatt immer nur mit älteren Herrschaften Kegeln zu gehen.
Nachdem Joli von ihrem Ex betrogen worden war und von ihm, nachdem sie ihn zur Rede gestellt hatte, auch noch den Laufpass bekam, hatte sie keine große Lust mehr auf neue Bekanntschaften. Ganz besonders dann nicht, wenn es sich um männliche Bekanntschaften handelte. Sie lebte zurückgezogen mit ihren geliebten Katzen Pawy und Abby in ihrer Anderthalb-Zimmer-Wohnung.
Joli kehrte ins Sprechzimmer zurück, als Frau Blumenburg die Praxis verließ.
„Na, Sie sind wohl gestern lange aufgeblieben?“, stellte Dr. Mark fest.
„Wie kommen Sie darauf?“
„Eine junge, unternehmungslustige Frau wie Sie hat doch Freitagabends sicherlich einiges vor.“
Wenn der wüsste. Ein Single-Haushalt und Langeweile gepaart mit der nervtötenden Partymusik des Nachbarn unter ihr, das war ihr Leben. Zumindest war es das bis gestern. Die Nachricht ihres Vaters hatte das geändert. Sie
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