Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
sie von einem Tonband. Oder als hätte jemand diesen Satz peinlich genau einstudiert.
„Hallo, hier ist Joli Balbuk. Ich habe mich wahrscheinlich verwählt. Oder vielmehr hat mir jemand eine falsche Nummer aufgeschrieben. Ich wollte eigentlich mit Phillip Tremonde sprechen. Entschuldigen Sie also bitte die Störung. Wiederhören.“
„Warten Sie, Joli. Ich bin der, den Sie suchen. Ich bin Phillip Tremonde“, drang es an ihr Ohr.
Joli hielt den Atem an.
„Es freut mich sehr, dass Sie, dass du dich meldest. Ich hatte es nicht zu hoffen gewagt, nun wird doch noch alles gut.“
Offenbar lag Herrn Tremonde einiges daran, sie vor seinem Tod kennen zu lernen. Und das fühlte sich für Joli gut an. Sehr gut sogar.
„Möchtest du mich treffen, Joli?“, fragte Phillip Tremonde, nachdem für eine Weile Schweigen eingekehrt war.
„In Ordnung“, sagte sie schließlich aus einem Bauchgefühl heraus, und bereute es im selben Moment. Normalerweise traf sie derart wichtige Entscheidungen nicht in einem emotionalen Ausnahmezustand wie diesem. Manche Entscheidungen mussten wohlüberlegt sein. Und diese fiel zweifelsohne in die Kategorie ‚überleg es dir genau’. Für einen Rückzieher war es jetzt zu spät, denn Phillip Tremonde hatte es unwahrscheinlich eilig seinen Vorschlag in die Tat umzusetzen.
„Wo bist du im Augenblick? Ich schicke dir ein Taxi.“
„Moment. Das geht mir ein wenig zu schnell, Herr Tremonde.“
„Das tut mir aufrichtig leid, Joli. Doch die Zeit drängt. Wenn du es also einrichten kannst, würde ich dich gern heute noch sehen. Bitte.“
Die Stimme des alten Mannes klang verzweifelt. Joli hatte Mitleid und verfluchte sich gleichzeitig für dieses Gefühl. Sie sollte nicht so leichtgläubig sein. Jeder konnte behaupten, er wäre ihr Vater. Vielleicht war es ratsamer, ihre Eltern anzurufen und sich den Namen bestätigen zu lassen. Sein ‚Bitte’ erweichte jedoch ihr Herz. Es klang ehrlich. Vielleicht weil sie nicht glauben wollte, dass er sie anlog.
„In Ordnung, ich sitze im Café
Expresso
Ecke Schwedenstraße. Und wo geht die Reise hin?“
„Nach Dahlem. Ich freue mich sehr.“
Mit diesen Worten legte er auf und ließ Joli völlig verblüfft am anderen Ende der Leitung zurück. Ihr Vater musste offenbar gut bei Kasse sein, wenn er in dieser Gegend wohnte. Oder er lebte zur Untermiete. Das würde auch erklären, warum er sich nicht mit seinem Namen meldete. Sie winkte den Kellner heran, bezahlte ihren Kakao und wartete auf das Taxi.
Fünf Minuten später saß sie auf dem Rücksitz der weißen Droschke. Der Fahrer war von der schweigsamen Sorte, das Radio hatte er auf volle Pulle gedreht. Joli war das nur recht. Ihr stand der Sinn nicht nach einer belanglosen Unterhaltung. Sie lauschte der atemberaubenden Stimme von Whitney Houston. ‚One Moment in Time.’ Für jeden Menschen, so glaubte Joli, gab es einen solchen ‚one moment’, der das Leben gänzlich veränderte. Manche warteten vielleicht länger als andere, doch ganz sicher gab es ihn, diesen entscheidenden Moment. Vielleicht war jetzt der ihre gekommen.
Schon bald veränderte sich das Straßenbild. Aus dem Augenwinkel sah sie Einfamilienhäuser und Villen an sich vorbei rauschen. Schließlich hielt das Taxi vor einem prachtvollen Anwesen, das ein wenig abgelegen am Ende der Straße lag, aber den anderen Villen in der Gegend um nichts nachstand. Das zweistöckige Gebäude strahlte im reinsten Weiß, im oberen Stockwerk gab es einen Balkon. Das Dach lief spitz zu und schimmerte im Licht der Sonne, als wäre es nass. In Wahrheit waren zwischen den Ziegeln Metallplatten angebracht, die das Sonnenlicht reflektierten. In den Vorgarten trat ein alter, gebrechlicher Mann in einem schwarzen Anzug, der ihm viel zu groß war. Unausgefüllt baumelten die Ärmel an ihm herunter. Joli stieg aus. Der Mann musste am Fenster gestanden und auf das Taxi gewartet haben. Nun lief er wackeligen Schrittes auf den Wagen zu und reichte dem Fahrer durch das offene Fenster einige Scheine.
„Behalten Sie den Rest“, sagte er.
Joli erkannte seine Stimme. Die ausgemergelte Gestalt war tatsächlich Phillip Tremonde. Ihr Vater wandte sich ihr zu. Seine Hände zitterten. Er wirkte erschreckend zerbrechlich, ganz anders, als sie ihn sich vorgestellt hatte, nachdem sie seine Stimme gehört hatte. Joli schätzte ihn auf Ende 60. Aber das war unwahrscheinlich. Wenn auch nicht gänzlich unmöglich. Vielleicht hatte er ihre Mutter sehr spät kennen und
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