Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
lieben gelernt.
Ein erfreutes Lächeln zeichnete sich auf den alten Zügen ab. Er wankte auf sie zu und legte die Hand auf ihre Schulter. Joli hatte das Gefühl, dass er sie umarmen wollte. Aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Vielleicht Scham oder die Angst vor Zurückweisung.
„Wie schön“, sagte er, löste sich von ihr und ging durch den blumenverzierten Vorgarten zum Haus. Joli folgte ihm. Der Kies unter ihren Füßen knirschte angenehm. Die Steine schimmerten feucht. Offenbar war es nicht lange her, seit der Garten zuletzt gesprengt wurde.
„Ein schönes Anwesen“, sagte sie anerkennend und fragte sich, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie ihre Kindheit in Dahlem verbracht hätte.
„Es gehört nicht mir, sondern Monsieur de Sagrais.“
Aha. „Sagrais?“
„De Sagrais“, verbesserte Tremonde. „Du wirst ihn kennen lernen.“
Joli fragte sich, in welcher Beziehung de Sagrais zu ihrem Vater stand. Handelte es sich um eine Art Männer-WG oder lebten die beiden als Paar zusammen? Das war vielleicht der Grund, warum ihre leiblichen Eltern sie weggegeben hatten. Die beiden Männer waren sicher zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um ein kleines Kind großzuziehen. Sie fragte sich aber, warum sich nicht zumindest ihre Mutter um sie gekümmert hatte.
Tremonde öffnete die knarrende Tür und bat Joli hinein. Kaum hatte sie die Villa betreten, glaubte sie, mit nur einem einzigen Schritt eine Reise in die Vergangenheit gemacht zu haben. Die Einrichtung des Hauses wirkte altmodisch. Mehr noch. Historisch. Joli betrachtete einen Spiegel mit goldenen Beschlägen und Arabesken. Ein wahrlich prachtvoller Anblick, wäre da nicht ein großer Sprung gewesen, der die Spiegelfläche teilte. Es sah aus, als hätte jemand seine Wut an dem guten Stück ausgelassen und ihn mit der Faust malträtiert.
Der Spiegel hing über einer Kommode, die gut und gern aus dem frühen 18. Jahrhundert stammen mochte. Natürlich konnten diese Möbelstücke Nachbildungen sein. Hier lebten eindeutig Exzentriker, oder Menschen, die das Flair der Vergangenheit liebten. Oder einfach ältere Herren, die von Neuerungen nichts hielten. Was auch immer die Beweggründe waren dieses Zuhause wie ein Herrenhaus aus dem Barock auszustatten, der Stil wurde konsequent durchgehalten, von Telefon und Radio abgesehen gab es hier nichts was darauf hindeutete, dass die Welt im 21. Jahrhundert angekommen war. Was ebenso auffiel wie die alten Möbelstücke, waren Knoblauchzehen und Kreuze, die an den Wänden und von den Decken hingen. Man war offenbar sehr religiös, wenn man die Anzahl der Kreuze betrachtete. Oder Sammler alter Reliquien. Warum man sein Heim allerdings mit Knoblauchgewächsen schmückte, konnte sie sich nicht erklären.
Phillip Tremonde führte Joli in den Salon, wie er das Wohnzimmer nannte, und bot ihr einen Platz auf einer edlen Couch mit Samtbezug an. Das Holzgestell knarrte verdächtig, als sie sich auf dem Sitzmöbel niederließ. Morsch war es wenigstens noch nicht. Oder zumindest nicht morsch genug, um unter Jolis Fliegengewicht zu zerbersten.
„Möchtest du einen Tee oder Kaffee?“
„Nein, danke. Ich hatte gerade eine heiße Schokolade.“
Phillip Tremonde nickte und entfernte sich von dem kleinen Rollwagen nahe der imposanten Eichentür, auf dem zwei Kannen und edles Porzellan standen. Dann setzte er sich ihr gegenüber auf den altmodischen Sessel und lächelte sanft. Joli lächelte zurück. Sein Lächeln wurde breiter und wandelte sich in ein verlegenes Grinsen, das zugleich unerwartet gepflegte Zähne enthüllte. Joli wusste nicht recht, was sie sagen sollte, bis ihr klar wurde, dass es ihm augenscheinlich genauso ging. Sie waren einander völlig fremd.
Sie wusste nichts über Tremonde, außer dem, was er ihr in seinem Brief offenbart hatte. Und er musste sogar noch weniger über sie wissen, weil er sie nie zuvor kontaktiert hatte. Die Situation war schwierig, vor allem ungewohnt. Einzig das Ticken der Kuckucksuhr durchbrach die unangenehme Stille. Ob wohl bei jeder vollen Stunde ein kleiner Holzkuckuck aus dem Miniaturtürchen schnellte? Joli sah auf das Ziffernblatt und stellte fest, dass sie noch eine Dreiviertelstunde warten musste, um das herauszufinden. Sie wandte den Blick von der Uhr ab und betrachtete Tremondes Ohren. Genau wie sie hatte auch er ein abstehendes Ohr. Der Anblick ließ ihre letzten Zweifel schwinden, dass es sich vielleicht nur um eine Verwechslung handelte. Es gab noch mehr
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