Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
Gemeinsamkeiten. Wenn er lächelte, kam er ihr auf unheimliche Weise vertraut vor. Sie entdeckte vieles von sich selbst, wenn sie ihn ansah.
„Der Arzt hat mir nur noch wenige Wochen zu leben gegeben“, unterbrach er das Schweigen plötzlich. „Außer dir habe ich keine lebenden Verwandten mehr“, sagte Tremonde ohne großes Feingefühl an den Tag zu legen oder sie auf das Thema vorzubereiten. Joli erschrak über die unerwartete Offenheit.
Irgendwann einmal musste der schwarze Anzug ihrem Vater wie angegossen gepasst haben. Er war vermutlich ein attraktiver, lebensfroher Mann gewesen. Es musste schrecklich sein, nur noch der Schatten eines früheren Ichs zu sein.
Betrübt senkte sie den Blick und fragte sich was er von ihr erwartete. Sollte sie ihn in die Arme nehmen? Sie kannte ihn doch kaum. Er war immer noch ein Fremder. Auch wenn sie großes Mitleid verspürte.
„Das tut mir leid.“ Joli warf einen kurzen Blick zu ihm und sah, wie betreten er drein schaute. So wie er aussah, fühlte sie sich im Moment. Sie wusste nicht recht, was sie dazu sagen sollte und räusperte sich verlegen. Aber es gab eine Frage, die ihr auf der Zunge brannte. „Was ist mit meiner Mutter?“ Es war vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt diese Frage zu stellen, denn es ging erst einmal um Tremonde, der in Frieden mit seinem Leben abschließen wollte. Doch Joli brannte darauf mehr über ihre Mutter zu erfahren und Tremonde schien es nichts auszumachen. Er sah sie gütig, wenn auch betrübt an.
„Deine Mutter, ihr Name war Claire, starb bei deiner Geburt.“
Sie hatte mit einer anderen Antwort gerechnet. Schlimmstenfalls damit, dass ihre Mutter sie aus Überforderung zur Adoption freigegeben hatte. Was wiederum viele neue Fragen aufgeworfen hätte. Andererseits verspürte sie nun Erleichterung darüber, dass ihre Mutter sie gar nicht weggegeben hatte. Vielleicht war sie kein ungewolltes Kind gewesen. Vielleicht wäre sie bei ihrer Mutter aufgewachsen, wenn diese nicht gestorben wäre. Wie oft hatte sie nachts in ihrem Bett gelegen und sich gefragt, warum ihre Eltern sie überhaupt in die Welt gesetzt hatten, wenn sie sie doch gar nicht wollten. Viele Fragen hatten sie ein Leben lang gequält. Nun wusste sie zumindest, dass ihre Mutter sie nicht weggegeben hatte. Warum ihr Vater sich für ein Leben ohne sie entschieden hatte, blieb hingegen offen. Sie hoffte, er würde es ihr im Laufe des Gespräches erklären.
„Die Familie Tremonde ist eine sehr alte, ehrwürdige und traditionsbewusste“, sagte er plötzlich mit Stolz geschwellter Brust. Joli ließ sich ihre Verwirrung über den plötzlichen Themenwechsel nicht anmerken. Sie würde ihn später noch einmal auf ihre Mutter ansprechen. Jetzt wollte sie ihn aus Höflichkeit ausreden lassen. „Seit über zwei Jahrhunderten stehen die Tremondes im Dienste des Marquis de Sagrais.“
„Marquis?“
„Des Markgrafen de Sagrais“, erklärte Tremonde bedeutsam.
Das musste aber ein sehr alter Herr sein. Joli lächelte, denn so wie er sich ausdrückte klang es als hätte die Familie Tremonde 200 Jahre lang ein und demselben Adligen gedient. Ihr Vater war wie es schien schon etwas verwirrt.
„Im Laufe der französischen Revolution flohen die Familien nach Preußen und ließen sich in Berlin nieder. Es waren schreckliche Zeiten, geprägt von Armut und Hunger. Sie mussten sich eine neue Existenz aufbauen, aufgrund der Unruhen in der Heimat hatten sie einen Großteil ihres Besitzes zurückgelassen. Seit jenem Tag wuchs die Verbindung zwischen dem Marquis und den Tremondes zu einem schier unzerstörbaren Band. Der Herr stieg in den Kunsthandel ein, beschaffte wertvolle Schätze aus Afrika und dem Orient, die er teuer an den Meistbietenden verkaufte. So sammelte sich über die Jahrzehnte ein beträchtliches Vermögen an. Für jeden Tremonde war es eine große Ehre, dem Herrn zu dienen und ihn nach Kräften zu unterstützen.“
Er zog ein zusammengerolltes Papier aus der Schublade einer Kommode, löste die Schleife, die es zusammenhielt, und breitete es vor Joli auf dem runden, polierten Tisch aus. „Sieh, das ist unser Stammbaum.“
Sie warf einen Blick auf die Aufzeichnung. Sie hatte Schwierigkeiten die schnörkelige Schrift zu entziffern, doch Tremonde trug die aufgeführten Namen mit solcher Inbrunst vor, als handelte es sich um Heilige.
„Sebastién Tremonde, Isabelle Tremonde, Phillip Tremonde I., Phillip Tremonde II. ...“
Es war merkwürdig, wie stolz er auf seine Ahnen
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