Lyon - A.M.O.R. 01
schien machtlos in ihrer Gegenwart. Ihr Appeal schlug ihn in ihren Bann, als läge ein seidenweicher Kokon um seinen Leib, der sein Denken wie sein Handeln beeinflusste, ohne es anfangs bewusst bemerkt zu haben. Dabei oblag ihm und seiner Spezies seit Jahrtausenden die Gabe, Gedanken zu manipulieren. Adina müsste etwas Besonderes bergen, dennoch spürte er nur die Aura eines Menschen, in dem das geheimnisumwobene Wunder des vampirischen Blutes auf ewig schlummern würde, weil sie bereits zu alt war, um sich zu wandeln.
War er wegen ihr so himmelschreiend abrupt erwacht und nicht aufgrund seines Hungers? Hatte er ihr deshalb das Leben retten können? Lyon sah sie an. Sie öffnete den Mund. Er hing an ihren vollen Lippen, neigte den Kopf ein wenig hinab wie zu einem Kuss.
„Bitte tu mir nichts.“
Oh Mann, sie kam halb um vor Angst. Und er hatte sich auf sie gestürzt. Sie bedrängt. Unverzeihlich. Sie würde sich nicht wandeln und schwebte somit nicht in Gefahr. Er musste sich nicht um sie kümmern. Er konnte sie, ohne sich zu sorgen, ihrem Schicksal überlassen. Und genau das musste und würde er jetzt tun.
Lyon landete behutsam im Klostervorhof. Alle Seelen schliefen den Schlaf der Gerechten. Stille lag wie ein leichter Dunst über den Pflastersteinen des offenen Hofes. Er ließ sie hinunter, wartete, bis ihre Beine sie trugen, und trat zurück. Die zunehmende Mondsichel beleuchtete ihr verängstigtes Gesicht. Ihre starre Haltung verdeutlichte ihre Furcht, die ihr zusetzte. Ihre Augen schimmerten.
Für einen Moment vergaß er seinen Beschluss, sich zurückzuziehen, inhalierte nochmals ihren süßen Duft. Die meisten Homo sapiens rochen undefinierbar wie ein Mix aus Kräutern, Fallobst und Laub. Adina jedoch verströmte ein intensives Aroma nach frischen Erdbeeren – unwiderstehlich, erotisch. Einst hatte er sich diese Frucht auf der Zunge zergehen lassen …
Er senkte die Lider. Sie war ein Mensch und blieb es. Er seufzte und sandte ihr einen letzten Befehl zum ewigen Abschied.
„Adina, geh in dein Zimmer und schlaf.“
Sie wandte sich um und verschwand hinter den Säulen eines düsteren Kreuzganges.
Adina mental zu lenken, erniedrigte. Unter seiner Einwirkung schwand das Ichbewusstsein eines Individuums, fiel der Verstand in sich zusammen, bis sein Gegenüber ihm vollständig ausgeliefert jedem seiner Wünsche Folge leistete. Sein Wille war Gesetz, bis zur völligen Selbstaufgabe, wenn er es beabsichtigte. Menschen glichen Marionetten in seinen Händen und zweifelten nicht, frei über ihr Verhalten entschieden zu haben. Niemand erinnerte sich im Nachhinein an eine psychische Manipulation.
Er strich sich das Haar zurück, blickte ihr lange nach, obwohl sie längst verschwunden war. Einsamkeit überkam ihn, als hätte sie einen Riss in seiner eigentlich unzerstörbaren Hülle verursacht, die sein Herz schützte, damit er fähig blieb, seine schwere Bürde als König zu tragen.
Ein Geräusch ließ ihn sich umdrehen. Er runzelte die Stirn. Die große Katze von vorhin stolzierte mit erhobenem Schwanz an der im Mondschatten liegenden Klostermauer entlang. Es konnte unmöglich dasselbe Tier sein. Er war einige Meilen hierher geflogen. Doch das beinahe wie bei einem Leopard gefleckte Fell und die schwarz umrandeten Augen, die ihn eindringlich musterten, sprachen eine andere Sprache. Die Raubkatze sprang einige elegante Sätze auf ihn zu, blieb ohne Scheu vor ihm stehen und legte den Kopf in den Nacken. Sie sah herausfordernd zu ihm auf. Ein Leopardus pardalis. Die Katze war ein Ozelot.
„Du siehst mich.“
Lyon hob überrascht die Brauen. Ein sprechendes Tier. Was für ein Tag!
„Und anscheinend hörst du mich auch.“
Lyon unterdrückte seine Verblüffung. Die voluminöse, weibliche Stimme des Ozelots wollte so gar nicht zu dem frechen Unterton passen. War er so geschwächt, halluzinierte er? Er schüttelte den Kopf. Da musste er 779 Jahre alt werden, um dem ersten sprechenden Tier zu begegnen, das kein Gestaltwandler war.
„Oh Mann! Ein Hinterwäldler.“ Der weibliche Ozelot rieb sich mit der Pfote über die Augenpartie und die orangerote Nase. „Womit habe ich dich nur verdient?“
„Was?“, fragte Lyon.
„Die Frage lautet: Wer?“
„Wie?“
„Oh Mann. Nein. Wer bist du?“
Langsam bröckelte Lyons innere Ruhe. Er stemmte die Fäuste in die Hüften. „Okay, also, wer bist du?“
Der Ozelot zog die Nase kraus, die langen weißen Schnurrhaare vibrierten und es sah aus, als grinste
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