Macho Man: Roman (German Edition)
Gesellschaft und die aufgespritzten Lippen, die wie ein Leuchtturm der Sprachlosigkeit inmitten einer Überfülle von Informationen anmuten ... Ein absolutes Meisterwerk.
Ach, übrigens: Betrachten Sie diese Mail als Kündigung. Wenn's am schönsten ist, soll man ja bekanntlich aufhören.
Mit freundlichen Grüßen,
Daniel Hagenberger
Ich klicke auf »Senden«. Eine Euphorie macht sich in mir breit. Ich habe die Werbebranche sowieso nie gemocht. Vielleicht mache ich mit Karl, Ulli und Lysa eine Kreativ-Firma auf. Oder ich baue Kartoffeln an. Oder ich schreibe meine Erinnerungen auf, nenne sie »Macho Man« und verkaufe sie als Roman. Vielleicht arbeite ich aber auch einfach mit meiner türkischen Familie zusammen ... Meine türkische Familie. Die nur dann meine Familie wird, wenn ich jetzt schnell zu Aylin fliege.
Als ich meinen E-Mail-Account gerade schließen will, sehe ich, dass der 1. FC Köln mir geantwortet hat:
Sehr geehrter Herr Hagenberger,
wir bedanken uns für Ihre Kritik und sind betrübt, dass Sie unzufrieden sind. Allerdings möchten wir darauf hinweisen, dass Glücksbringer traditionell keine Hoden benötigen, um zu wirken. Auch Pfennigstücke, Fliegenpilze und Hufeisen besitzen keine männlichen Geschlechtsorgane. Der von Ihnen erwähnte Löwe von Bayer Leverkusen ist lediglich ein Karnevalskostüm, in dem sich ein Ein-Euro-Jobber befindet. Wir sind stolz auf unseren Bock und hoffen, Sie halten uns weiterhin die Treue. Ihr 1. FC Köln
Eigenlich haben sie recht. Was ist nur in mich gefahren? Es ist doch toll, ein süßes Knuddel-Maskottchen zu haben. Und immerhin kann er den Glücksbringer von Greuther Fürth, das Kleeblatt, einfach aufessen.
Es ist fast zwei, und der nächste Flug geht um sechs Uhr ab Hamburg. Ich rufe am Flughafen an. Es sind noch wenige Plätze frei, aber spätestens um fünf müsste ich am Check-in sein. Ich lüge, das sei kein Problem, und reserviere. Wie zum Teufel komme ich in drei Stunden nach Hamburg? Mir fällt nur eine Lösung ein...
20 Minuten später sitze ich neben Cem im silbernen BMW Cabrio, dessen Verdeck diesmal wegen Regens geschlossen ist, und düse über die A1. Cem hat keine Fragen gestellt, aber er weiß genau, worum es geht. Der Regen macht es nicht einfacher, in drei Stunden nach Hamburg zu kommen, aber in lebensbedrohlichen Situationen hat sich bei mir ein gewisser Fatalismus eingestellt.
Cem hat diesmal keinen Türk-Pop im CD-Wechsler, sondern die »Abba Gold«, bei der er jeden Song mitsingt und im Takt mitwippt. Ein türkischer Macho, der Abba verehrt? Plötzlich suchen mich Erinnerungsfetzen heim: Cem wirft die Telefonnummer der Kellnerin weg, in der Disco schaut er die halb nackten Frauen auf der Tanzfläche nicht an, hinterher kommt ein Typ mit zum Auto, gibt Cem einen Klaps auf den Po und lächelt schelmisch. Ein Bild setzt sich zusammen: Cem guckt nicht im Männercafé Fußball, er hat keine Freundin, und in seinem Zimmer habe ich eine Autogrammkarte von George Michael gesehen. Ich bin irritiert und drehe die Musik ein wenig leiser.
»Sag mal, Cem... Du, äh, also, äh, du... du hörst Abba?«
»Du willst wissen, ob ich schwul bin? Ja, bin ich.«
»Aber... du... ich dachte immer, du bist so ein Macho.«
»Ich bin immer noch Türke.«
»Hast du einen Freund?«
»Ja.«
»Und neulich in der Disco?«
»Frag nicht.«
»Aber... Deine Eltern?«
»Die wissen Bescheid.«
»Also hast du dich geoutet.«
»Natürlich nicht.«
»Dann haben sie dich irgendwo erwischt.«
»Nein.«
»Aber woher wissen sie ...«
»Sie wissen es einfach. Sie sind nicht dumm.«
»Aber was haben sie denn gesagt?«
»Gar nichts.«
»Wie, gar nichts?«
»Darüber wird nicht gesprochen. Ich weiß, dass sie es wissen. Sie wissen, dass ich weiß, dass sie es wissen. Das reicht.«
»Aber hast du nicht das Bedürfnis, ihnen deinen Freund vorzustellen?«
»Bist du wahnsinnig? Er ist Grieche.«
»O nein!«
»Außerdem: Auch wenn es alle wissen, ist es noch lange nichtoffiziell. In der Türkei kannst du eigentlich alles machen. Das können auch ruhig alle wissen. Nur reden darfst du nicht drüber.«
»Ist das nicht schwierig, wenn man die Wahrheit nie aussprechen darf?«
»Hey, ich bin Jurist!«
Rothaarige Türken, okay. Rothaarige Schweinefleisch essende Türken, okay. Aber rothaarige Schweinefleisch essende homosexuelle Türken – das ist zu viel. Das ist ja wie nüchterne Engländer auf Mallorca ohne Sonnenbrand. Oder bescheidene Amerikaner ohne
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