Macho Man: Roman (German Edition)
sein? Na ja, zehn Minuten, das ist absolut im Rahmen. Keine Frau ist pünktlich bei einem Date. Pünktlich sein heißt: Ich will dich! Ein viel zu klares Signal. Gut, ich war pünktlich, aber das weiß sie ja nicht. Oder vielleicht doch? Hat sie mich vom Fenster aus gesehen und sich dann gedacht: »Ich gehe doch nicht zu 'nem Date mit so einem penetranten Pünktlichkeits-Freak«?
20 Minuten ... Ich versuche, beim Warten einen coolen Eindruck zu vermitteln. Okay, das nervöse Mit-dem-Knie-Wippen gibt Abzüge in der B-Note ... 25 Minuten. Ich schalte um auf meinen inneren Udo-Modus und denke: »Keine Panik. Dübndüdü. Alles easy...«
Eine halbe Stunde – da wäre man auf eine weniger attraktive Frau schon ein kleines bisschen sauer ... Aber auf Aylin würde ich ... ja, wie lange würde ich eigentlich auf sie warten? Ein Leben lang? O ja. Ein Leben lang. Seufz!
35 Minuten. 35 Minuten und eine Sekunde, zwei Sekunden, drei Sekunden, vier Sekunden, fünf Sekunden ... Ich konzentriere mich auf meinen Atem. Ich werde eins mit meinem Atem. Ich brauche mein Asthma-Spray.
40 Minuten. Ein Leben lang, das klingt erst mal romantisch, aber wenn man drüber nachdenkt, würde »ein Leben lang« in einem 5-Sterne-All-inclusive-Hotel bei 495 Euro pro Woche und einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 76 Jahren knapp 300 000 Euro kosten. Wie soll ich die denn verdienen, wenn ich die ganze Zeit auf Aylin warte?!
Eine Stunde – jetzt halte ich es für denkbar, dass ihr dieser Ausflug möglicherweise nicht ganz so wichtig ist wie mir. Mein innerer Udo möchte eine Flasche Eierlikör auf ex trinken. Mein Spiegelbild im Fenster hat die Körperspannung einer spanischen Schlammschnecke. Im Geiste gehe ich mehrere Möglichkeitendurch, Mark möglichst amüsant von diesem Desaster zu berichten. Mein Favorit bisher: »Ich habe die türkische Fassung von Warten auf Godot uraufgeführt – aber das Publikum war am Strand.«
Da! Genau 73 Minuten und 28 Sekunden nach dem vereinbarten Zeitpunkt kommt Aylin zu meinem Tisch. Zum ersten Mal sehe ich sie ohne das Rixa-Diva-Animations-Team-T-Shirt. Stattdessen trägt sie ein kurzes Top, das den Blick nicht nur auf ein atemberaubendes Dekolleté, sondern auch auf einen süßen Bauchnabel freigibt.
»Hi!«
Das darf ja wohl nicht wahr sein. Jetzt hab ich schon wieder »Hi« gesagt. Kein »Guten Morgen«, kein Kompliment, nichts.
»Kommst du, Daniel? Der Bus fährt gleich ab.«
»Okay, ich äh...«
Ich stehe auf. Küsschen links, Küsschen rechts. Dann gehe ich mit Aylin zum Ausgang. Sie streichelt mir kurz mit der Hand über den Rücken. Das erste Zeichen, dass sie was von mir will... Mist, warum hab ich nicht einfach nur »Okay« gesagt, sondern dieses blöde »ich äh« hinterhergeschoben?! So was Blödes aber auch ... Aufhören! Ich kann mich doch nicht für jeden verdammten Satz kritisieren. Irgendwann einmal werde ich etwas Intelligentes zu Aylin sagen, aber dieser Moment liegt definitiv nicht in der näheren Zukunft. Hat sie eigentlich erwähnt, warum sie 73 Minuten und 28 Sekunden zu spät war? Nein?! Egal.
Wir steigen in einen »Dolmus«, einen öffentlichen Minibus für 15 Fahrgäste. Der Fahrer hat sich entschlossen, dem Klischee Genüge zu tun: Er trägt einen breiten schwarzen Schnurrbart und dünstet die Jahresernte einer anatolischen Knoblauchplantage aus. Er macht offensichtlich auf Türkisch eine anzügliche Bemerkung zu Aylin, denn Aylin antwortet sehr hart und genervt. Sie kann also auch anders. Wir ergattern zwei Plätze in der letzten Reihe. Leider kann ich den so entstehenden Körperkontakt mit Aylin nur kurz genießen: Der Fahrer fährt in dem festen Glauben, dass jeder Passagier ein Scout von McLaren-Mercedes seinkönnte, der neue Talente für die Formel 1 sucht. Vielleicht möchte er aber auch den Film Speed nachspielen, wo der Bus explodieren würde, wenn er langsamer als 80 km/h fährt.
Das Positive: Ich habe so viel Angst um mein Leben, dass ich kaum noch nervös wegen Aylin bin – und das, obwohl wir in den Kurven regelrecht zusammengequetscht werden. Auch als die Straße ins Taurus-Gebirge führt und zur Seite hin gefühlte 10 000 Meter zum Meer abfällt, veranlasst das unseren türkischen Räikkönen nicht im Geringsten, das Tempo zu drosseln. Die einzige erkennbare Vorsichtsmaßnahme besteht darin, vor den Kurven kurz zu hupen, um eventuellen Gegenverkehr zu warnen. Wobei der einzige potenzielle Erfolg dieses Manövers darin bestünde, dass man mit
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