Nemesis 06 - Morgengrauen
*
Dieses Mal träumte ich nicht. Natürlich nicht; schließlich war ich tot, wie ich meinte. Wohlige Dunkelheit hatte sich wie ein samtener Schleier über mein Bewusstsein gelegt, meine Sinne eingehüllt und damit begonnen, meine durch und durch von angenehmer Passivität erfüllte Seele zärtlich zu liebkosen. Ich hatte verloren, aber ich genoss meine Niederlage in vollen Zügen. Es heißt, man lebt nur einmal, was die meisten Menschen dazu motiviert, sich bis zum bitteren Ende an jedes Fitzelchen Leben zu klammern; ich war da keine Ausnahme gewesen. Aber dass man lediglich über ein Leben verfügte, bedeutete nicht zwangsläufig, dass es etwas ungemein Schönes und Wertvolles sein musste, das man um jeden Preis bis zum Erbrechen auskosten musste – schließlich bekam man auch nur einmal im Leben die Weisheitszähne gezogen ...
Ich bemerkte, dass ich außergewöhnlich klar und sarkastisch denken konnte; eine Tatsache, die mich beunruhigte und den samtweichen Schleier zwar nicht vertrieb, aber irgendwie veränderte. Er begann, auf meinen Sinnen ein wenig zu kratzen. Vielleicht war ich doch nicht ganz so tot, wie ich angenommen hatte. Dass mein Vergleich eine der Situation unangemessene und durch und durch unangenehme Erinnerung in mir wachrief, bestärkte meinen Verdacht. Es musste noch ein wenig Leben in mir sein, dass ich mir die Erinnerung an das kalte Neonlicht aus drei Strahlern in einer runden weißen Plastikfassung dicht über meinem Gesicht so deutlich ins Bewusstsein zurückrufen und es fast bildlich vor meinen Augen sehen konnte. Ich hatte einen bitteren, irgendwie rostigen Geschmack im Mund und konnte die Stimmen des Zahnarztes und seiner Gehilfinnen hören, als läge ich tatsächlich wieder auf dem harten, verstellbaren Behandlungsstuhl.
Ich verstand nicht, was sie sagten.
Vorsichtig öffnete ich die Augen einen winzigen Spaltbreit und blinzelte geblendet in das gleißende weiße Licht aus dem runden OP-Strahler, der tatsächlich dicht über mir leuchtete. Ich war nicht tot, stellte ich in einer Mischung aus Bedauern und mir selbst unerklärlicher Erleichterung fest. Aber ich lebte auch nicht wirklich. Meine Glieder fühlten sich schwer und klamm an, und in diesem Moment begannen meine Finger- und Zehenspitzen unangenehm zu kribbeln. Ich lag nicht auf einem Zahnarztstuhl, sondern auf etwas Glattem, Metallischem, an dem meine nasskalte Haut klebte, als sei sie mit unzähligen winzigen Lamellen ausgestattet, wie die Finger eines Geckos.
»Er ist aufgewacht«, drang eine fremde Männerstimme wie aus weiter Ferne an mein Ohr.
Ich wollte den Kopf in die Richtung drehen, aus der die Stimme gekommen war, schaffte es aber nicht. Mein Kopf fühlte sich an wie mit Blei ausgegossen und zusätzlich noch mit dicken Nieten an den Tisch fixiert, auf dem ich lag.
»Das kann nicht sein«, erwiderte jemand, der direkt hinter mir stehen musste. »Mit dieser Dosis könnte man einen Elefanten schlafen legen.«
»Erhöhe die Dosis!« Das war wieder die erste Stimme.
Sie klang verunsichert, aber entschlossen.
»Das ist –«
»Ich diskutiere nicht!« Die Verunsicherung war einem dominanten, keinen Widerspruch duldenden Tonfall gewichen, und die zweite Stimme erlaubte sich auch keinen weiteren Einwand. Stattdessen spürte ich, wie sich jemand an meinem linken Arm zu schaffen machte. Ich konnte mich noch immer nicht bewegen, schaffte es aber, die Augen unter großer Anstrengung nach links zu verdrehen und zumindest trotz verschleiertem Blick zu erkennen, was geschah. Eine schlanke Gestalt in einem grünen Operationskittel stand neben mir und hantierte mit etwas an meiner Armbeuge herum. Eine weitere in einem identischen, aber blutbespritzten Kittel hielt ein Skalpell zwischen den Fingern, die in hautengen Gummihandschuhen steckten. Mit einem Mal wich der Geschmack von rostigem Metall auf meiner Zunge, und ich spürte darauf nur noch einen bitteren, trockenen Pelz.
»Sein Herz!«, fuhr jemand auf. Es war die Stimme einer Frau. Ellens Stimme? Ich war mir nicht sicher. »Wir verlieren ihn!«, fluchte sie.
Ein kurzer, heftiger Schauer durchfuhr meinen Körper, dann schien irgendetwas in meiner Brust zu explodieren und mein Herz in Millionen und Abermillionen winziger, glühend heißer Splitter zu zersprengen. Ich fühlte, wie kalter Schweiß über mein Gesicht rann. Wo war ich? Was geschah hier mit mir?
Ich spürte Panik in mir aufsteigen. Hektisch und voll schrecklicher Ahnungen wanderte mein Blick über die
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