Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mach's falsch, und du machst es richtig

Mach's falsch, und du machst es richtig

Titel: Mach's falsch, und du machst es richtig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ankowitsch
Vom Netzwerk:
Magen-Darm-Grippe begonnen, andere glaubten sich daran zu erinnern, daß er eines Tages aus der Schule nach Hause gekommen war und über bohrende Schmerzen in der Magengegend geklagt hatte. Mittlerweile war das egal: Jetzt waren sie da und gingen nicht mehr weg, obwohl es keine körperlichen Ursachen für sie gab. Seit zwei Jahren hatte es kaum eine Stunde im Leben des klugen, begabten Jungen gegeben, in dem sich nicht alles um sie gedreht hätte, um diese rätselhaften, beißenden, hartnäckigen Schmerzen im Bauch.
    Manchmal wurden sie schwächer, doch anstatt sich darüber zu freuen, war es die Angst vor den Schmerzen, die nun an Martin nagte. Irgendwann würden sie natürlich zurückkehren, manchmal schneller, manchmal langsamer. War es Martin anfangs noch gelungen, sie zwischendurch zu vergessen, weil sie nur alle paar Tage wiederkamen, sorgte seine Umgebung dafür, daß sie ihm wieder einfielen. Was liebevolle Eltern, besorgte Verwandte und gute Freunde eben so reden: «Wie geht es dir denn?» wollten sie wissen. «Hast du wieder Schmerzen?» Oder: «Mensch, du Armer, diese Schmerzen müssen ja schrecklich sein, kann man da denn gar nichts tun?» Schließlich blieben sie für immer und verschlangen jede Form von Freude, Lebensenergie und Aufmerksamkeit. Die Eltern versuchten vieles, um sie wieder zu vertreiben. Erst verordneten sie dem Jungen Coolpacks und Massagen, dann besuchten sie Homöopathen und Akupunkteure. Es nutzte nichts. Also fuhr man schwerere Geschütze auf. Ein Arzt entfernte Martin den Blinddarm, der nächste verschrieb ihm Medikamente. Ärzte hassen das Gefühl, nicht helfen zu können, genau wie besorgte Eltern. Deshalb tun sie gelegentlich irgend etwas, auch wenn sie schon ahnen, daß es nichts bringt.
    Schmerzen sind eine eigenartige Sache. Sie lassen sich nur verstehen, wenn man ihren Doppelcharakter würdigt. Sie sind nämlich ebenso
real
wie
eingebildet
, also das Produkt unseres Körpers ebenso wie unserer Wahrnehmung. So müssen wir einerseits akzeptieren, daß Martins Schmerzen echt sind, auch wenn sie keine körperliche Ursache (mehr) haben. Immer wieder feuert das Schmerzzentrum in seinem Gehirn, der somatosensorische Cortex, und überschwemmt den Körper des Elfjährigen mit jenen Gefühlen, die wir «Normale» empfinden, wenn wir die Hand auf eine heiße Herdplatte legen. Andererseits jedoch entscheidet Martins Aufmerksamkeit und Wahrnehmung darüber, wie stark er diese Schmerzen empfindet bzw. ob er sie überhaupt spürt. So hängt die Intensität unserer Schmerzen
auch
davon ab, ob wir den lieben langen Tag in uns hineinhorchen, um sie im Körperinneren zu suchen; ob wir von unserer Umgebung ständig auf sie hingewiesen werden («Oh, ein blauer Fleck, du Armer. Das muß doch weh tun!»); ob wir sozialen Gewinn aus ihnen ziehen (bemitleidet oder geschont werden) oder ob wir sie bloß als hilfreiche Warnsignale interpretieren.
    Jetzt saß Martin also in der Klinik und wollte nicht mehr. Ein Arzt hatte seinen Eltern empfohlen, mit ihm nach Datteln zu kommen, wo sich die einzige deutsche Einrichtung ihrer Art befindet. Sie ist auf Fälle wie Martin spezialisiert, auf Kinder und Jugendliche mit chronischen Schmerzen also [1] . Die Leute in der Klinik wußten, was zu tun war, um Martins Lage schnell und merklich zu verbessern. Als erstes ließen die Ärzte die Medikamente verschwinden, weil damit bei chronischen Bauchschmerzen nachweislich nichts zu erreichen ist. Dann verbot Michael Dobe der Familie, über die Schmerzen von Martin zu sprechen – und sollte es
doch
einer tun, mußte er Martin einen Euro zahlen. Und schließlich lenkte Dobe die Aufmerksamkeit seines Patienten auf andere Dinge, fragte ihn nach seinen Hobbys, ermunterte ihn, mit anderen zu sprechen, über Gott und die Welt, aber keinesfalls über seinen Zustand. Der Kinderpsychotherapeut und sein neuer Patient trafen sich mehrmals die Woche, im Alltag stand ihm das Schmerzteam zur Seite. Martin atmete auf. Die Familie atmete auf. Nicht aber Michael Dobe. Es gab nämlich etwas, das er weder bei Martin noch bei all seinen anderen Schmerzpatienten je zum Thema gemacht hatte: das bange Warten auf die Schmerzen. Die Angst vor der nächsten Welle.
    Fragt man den Psychotherapeuten heute, wann und wie er auf die Idee gekommen ist, Kindern wie Martin völlig neue Perspektiven zu eröffnen, dann weiß er das nicht mehr so genau. Die Idee sei weniger das Ergebnis einer plötzlichen Eingebung gewesen – vielmehr habe sie sich

Weitere Kostenlose Bücher