Mach's falsch, und du machst es richtig
langsam, während vieler Monate in seinem Kopf geformt, vorangetrieben durch Gespräche mit seinen Kolleginnen und Kollegen. Losgegangen sei es 2003 , ein Jahr bevor er Martin kennengelernt hatte. Damals kam eine Reihe von Kindern mit chronischen Schmerzen in die Klinik. Während sich Michael Dobe und die vielen anderen Spezialisten auf der Schmerzstation um ihre Patienten kümmerten, stellte sich heraus, daß die meisten dieser Kinder unter Traumata litten: Manche hatten den Krieg im Kosovo miterlebt, andere schwere Verkehrsunfälle und wieder andere familiäre Gewalt – Erlebnisse, die ein verhängnisvolles Wechselspiel in Gang gesetzt hatten: Die belastenden Erinnerungen lösten chronische Schmerzen aus, diese Schmerzen wiederum riefen die Erinnerungen an den Krieg oder den Verkehrsunfall wach, die Erinnerungen wiederum neue Schmerzen und immer so fort.
Eine klassische Strategie der Traumatherapie besteht darin, die Opfer im Laufe der Behandlung mit ihren quälenden Erfahrungen zu konfrontieren, damit sie diese in den Griff bekommen. Eine Methode, so fiel Michael Dobe auf, die in der Schmerztherapie nicht verfolgt wurde. «Warum eigentlich nicht?» fragte er sich. «Weichen wir der Angst vor den Schmerzen nicht aus, wenn wir unsere Patienten bloß darin unterstützen, ihre Aufmerksamkeit anderem zuzuwenden?» Und: «Ist das nicht eine Vermeidungsstrategie, wie man sie in der Traumatherapie nicht akzeptieren würde?» Er dachte nach. Und kam zu dem Ergebnis, daß es genau so sein mußte: Wer Kindern zeigt, wie sie besser mit ihren Schmerzen umgehen können, dabei aber die Angst vor den Schmerzen unangetastet läßt, der hilft ihnen – aber nur halb. So machte sich Michael Dobe auf die Suche nach einem Weg, die Kinder und ihre Angst miteinander bekannt zu machen.
Wir sollten uns Michael Dobe nicht als einen jener Psychotherapeuten vorstellen, die gerne den Kopf ein wenig zur Seite legen, verständnisvoll lächeln und mit leiser Stimme besänftigende Worte sprechen. Mit diesem Modell kann er wenig anfangen. Vielmehr liebt Dobe klare Worte und klare Forderungen. Daß er dennoch überaus liebenswert wirkt, liegt an seiner lebendigen Art ebenso wie an dem Umstand, daß er aus eigener Erfahrung weiß, wie sich starke Schmerzen anfühlen und wie man erfolgreich mit ihnen umgeht. Dobe litt in der Vergangenheit manchmal unter Migräneanfällen. Daher weiß er auch, was seine Patienten brauchen und was nicht: «Verständnisvolle Gespräche helfen weder Traumatisierten noch Schmerzpatienten», sagt er. Statt hilfreich gemeinten «Geblubbers» müsse man den Kindern Fertigkeiten an die Hand geben, mit denen sie sich selber helfen können. Mit denen sie sich von ihm, dem Team und von der Klinik unabhängig machen. Mit denen sie ihrer Angst auf Augenhöhe begegnen und sie am Ende überwinden können. Nur, wie sollte das klappen? Michael Dobe hatte erst keine rechte Vorstellung davon. Also begann er zu experimentieren. Mit einer kleinen Intervention hier, einer kleinen Intervention da. Immer wieder fragte Michael Dobe seine Patienten, die er seine «kleinen Mitwissenschaftler» nennt, ob ihnen seine Angebote etwas gebracht hätten oder nicht. Der Kinderpsychotherapeut verwarf das eine, probierte das andere, rätselte über das dritte. Bis er schließlich im Austausch mit Kollegen entwickelt hatte, was seit kurzem unter Kinderschmerzspezialisten für Aufmerksamkeit sorgt: die Schmerzprovokationstechnik bzw. «Pain Provocation Technique» ( PPT ).
Diese Methode ist eine Zumutung. Michael Dobe weiß das. Und seine Patienten sorgen dafür, daß er es nicht vergißt: «Fast alle Eltern und Kinder reagieren erst einmal ziemlich fassungslos. Unser Vorgehen stellt ihre bisherigen Denkvorstellungen und Bewältigungsstrategien auf den Kopf. Und bis zur genauen Erklärung des Wieso, Weshalb, Warum stellt sie auch tatsächlich ein Paradoxon dar.» Dobe tut nämlich erst einmal das Falsche. Im Wissen darum, daß es sich bald als das Richtige herausstellen wird, also das Hilfreiche. So mutet er Patienten wie Martin allen Ernstes zu, sich ganz auf ihre Schmerzen zu konzentrieren. Sich ihrer bewußt zu werden, ihnen nicht mehr auszuweichen, ihnen gleichsam ins Gesicht zu sehen. Das ist deshalb eine Zumutung, weil diese Anweisung nicht nur der klassischen Anweisung der Schmerztherapie widerspricht, die Aufmerksamkeit auf anderes zu lenken. Sondern auch, weil Schmerzen, auf die man seine Aufmerksamkeit richtet,
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