Macht der Toten
schwitzte bereits wieder unter seiner Soutane. Sein Kopf fühlte sich an, wie unter einer dicken Glocke gefangen. Hoffentlich blieb er von einer Lungenentzündung verschont.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und beobachtete ein junges Paar mit zwei Kindern. Wie glücklich sie waren. Vielleicht blieb ihm für die letzten paar Jahre auch noch ein wenig Zeit, das Glück dieser Welt zu genießen. Er blickte nach draußen. Der Himmel klarte auf. Die Sonne glitzerte im Schnee jenseits der Startbahnen. Es war noch eine Weile bis zum Frühling, aber jetzt war sich Cato gewiss, er würde kommen. Irgendwann würden alle Blumen wieder blühen.
Durch das Flugzeug ging ein Ruck. Es rollte in Startposition. Die Stewardessen gaben ihre Anweisungen zur Sicherheit, wenig später begrüßte der Pilot seine Fluggäste. Cato schnäuzte in das Taschentuch der alten Dame, da spürte er, wie die Maschine sich in Bewegung setzte. Rasend schnell beschleunigte sie. Ein grober Stoß ging durch das Flugzeug, es erhob sich vom Asphalt der Startbahn. Cato spürte jene Leichtigkeit, die ihn immer erfasste, wenn er flog. Für ein paar Sekunden spürte er die Grippe nicht mehr; ihm war, als ließe er sie in Berlin zurück.
Er blickte aus dem Bullauge. Die Welt entfernte sich unter ihnen. Etwas rappelte über seinem Kopf. Jemand hatte das Handgepäck nicht richtig verstaut. Er schloss die Augen. Er würde wieder eine Weile schlafen. Er war gerade eingenickt, da brachte ein lauter Knall sein Trommelfell zum Platzen. Erschrocken riss er die Augen auf. Doch die Flammen, die erst seine Haut, dann seinen ganzen Körper versengten, sah er schon nicht mehr.
Montag
Berliner Kurier, Montag, 8. Dezember 2003
TERROR-ANSCHLAG AUF FLUGZEUG!
ALLE INSASSEN TOT!
96 Tote – das ist die grausige Bilanz der gestrigen Katastrophe am Berliner Flughafen Schönefeld. Eine Maschine der Fluglinie Germanwings explodierte wenige Minuten nach dem Start.
Ein Sprecher der Untersuchungskommission bestätigte inzwischen, dass es sich bei dem Unglück zweifelsfrei um ein Attentat handelt. Der Absturz sei von einem »Sprengsatz in den Frachträumen« ausgelöst worden, zitiert die Nachrichtenagentur dpa den Leiter der Kommission. Wer hinter dem Terrorakt steckt, ist allerdings noch nicht geklärt. Bisher gibt es auch keinerlei Kenntnis über ein Bekennerschreiben. Somit herrscht auch noch Ungewissheit über die Gründe für das Attentat.
Gegenwärtig konzentrieren sich die Ermittler auf die Frage, wie der Sprengstoff vorbei an den Sicherheitskontrollen an Bord gelangen konnte.
Epilog
Einige Jahre später, im Juni. Ein prächtiger Sommermonat. Ein paar Wolken schoben sich vor die Sonne, zogen langsam vorbei. Kurz darauf kam die Sonne wieder zum Vorschein, schickte ihre wärmenden Strahlen hinab auf die Erde.
Trotzdem zog die junge Frau, die auf der Parkbank saß, den Aufschlag ihrer Jacke bis ans Kinn. Es war kalt geworden, noch viel kälter als im Juni des letzten Jahres. Sie wandte sich dem Spielplatz zu, der ein paar Meter weiter lag. Sie hielt Ausschau nach ihrem Sohn, der mit seinen Freunden im Sandkasten spielte. Die Sonnenstrahlen ließen den Schnee verführerisch glitzern. Die Frau rief: »David, zieh bitte wieder deine Handschuhe an!«
Er winkte ihr. »Ja! Gleich!« Und seinem Freund erklärte er: »Das ist meine Mama.«
»Wie heißt sie denn?«
»Chris!«
Chris dachte: Handschuhe im Sommer. Irgendwie war alles durcheinandergeraten. Schnee im Juni! Wer hätte das gedacht?
Auf der Straße hinter ihr ratterte ein Militärjeep über den Asphalt. Ein Trupp Soldaten zog in schwerer Kampfausrüstung an dem Spielplatz vorbei.
David und die anderen Kinder beachteten sie nicht. Sie hatten sich längst an den Anblick gewöhnt. Seit den fürchterlichen Anschlägen auf den Potsdamer Platz in Berlin, das Frankfurter Bankenviertel und die AOL-Arena in München, bei denen Hunderte Menschen aus bis heute unbekannten Gründen gestorben waren, waren Sicherheitskräfte im Stadtbild allgegenwärtig. Die Welt geriet aus den Fugen.
Eine Frau trat zu den Kindern, ging vor David in die Hocke. Der Junge unterbrach das Schneeschaufeln und schaute den Neuankömmling unter seinem wirren Haarschopf hervor an. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Chris den Anblick als süß empfunden. Jetzt stockte ihr das Herz.
Die Frau war drauf und dran, ihrem Sohn etwas zu geben. »He, Sie da!«, rief Chris.
Sicherheitskräfte, die vorbeipatrouillierten,
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