Macht (German Edition)
oder beim politischen Zusammenstoß oder beim
Aufmarsch der Massen einem von außen gestellten Ziel entgegen. Das organisierte Leben der Gemeinschaft ist notwendig, aber es ist notwendig als Mechanismus und besitzt keinen Wert an sich. Was von größtem Wert im Leben ist, entspricht eher dem, was die großen religiösen Lehrer gesagt haben. Die an den Korporativstaat glauben, behaupten, dass unsere höchsten Handlungen kollektiver Natur sind, während ich der Ansicht bin, dass wir unser Bestes auf verschiedenen Wegen erreichen und dass die emotionelle Einheit einer Masse nur auf einem tieferen Niveau zu erreichen ist.
Das ist der wesentliche Unterschied zwischen der liberalen Anschauung und der des totalitären Staates, dass die erste das Wohlergehen des Staates als letzten Endes auf dem Wohlergehen jedes einzelnen gegründet betrachtet, während die letztere den Staat als Endzweck und die Individuen nur als unentbehrliche Bestandteile ansieht, deren Wohlergehen einer mystischen Totalität – die die Interessen der Herrschenden verschleiert – untergeordnet ist. Im alten Rom gab es etwas wie die Doktrin der Staatsverehrung, aber das Christentum bekämpfte die Kaiser und trug schließlich den Sieg davon. Der Liberalismus setzt in seiner Bewertung des Individuums die christliche Tradition fort; seine Gegner lassen bestimmte vorchristliche Lehren wiederaufleben. Von Anfang an haben die Verherrlicher des Staates die Erziehung als Schlüssel zum Erfolg betrachtet. Das wird zum Beispiel in Fichtes »Reden an die deutsche Nation« deutlich, die ausführlich die Frage der Erziehung behandeln. Was Fichte wünscht, wird in folgendem Abschnitt beschrieben:
»Wenn jemand sagen würde: >Wie könnte einer mehr von einer Erziehung verlangen, als dass sie dem Schüler das Rechte zeigt und es ihm nahelegt; ob er diesen Weisungen folgt, ist seine Sache, und wenn er es nicht tut, sein eigener Fehler; er hat einen freien Willen, den keine Erziehung von ihm nehmen kann<, würde ich antworten, um die Erziehung, die ich im Sinne habe, schärfer zu kennzeichnen, dass gerade diese Anerkennung des freien Willens und das Zählen auf ihn den ersten Fehler in der bisherigen Erziehung enthält und den deutlichen Beweis für ihre Unfähigkeit und Leere. Denn insofern zugegeben wird, dass nach der stärksten Handhabung der Wille frei bleibt, das heißt unentschieden schwankend zwischen gut und böse, wird zugegeben, dass die Erziehung den Willen oder, da der Wille die wesentliche Wurzel des Menschen ist, den Menschen selbst weder formen will noch kann, und dass man dies für gänzlich unmöglich hält. Die neue Erziehung müsste im Gegenteil darin bestehen, dass die Freiheit des Willens auf dem Gebiet, mit dem die Erziehung gerade zu tun hat, gänzlich vernichtet wird.«
Sein Wunsch, »gute« Menschen zu schaffen, entsteht nicht aus der Überlegung, dass sie an sich besser als »schlechte« Menschen sind; sein Grund ist, dass »nur in solchen (guten Menschen) die deutsche Nation fortdauern kann, aber sie durch schlechte Menschen notwendigerweise mit fremden Ländern verschmelzen müsste«.
All das kann als Ausdruck der genauen Antithese genommen werden zu dem, was der liberale Erzieher zu vollbringen sucht. Weit davon entfernt, »die Freiheit des Willens zu vernichten«, wird er versuchen, das persönliche Urteil zu stärken; er wird soweit wie möglich seinen Schülern eine wissenschaftliche Haltung gegenüber der Vervollkommnung ihres Wissens geben; er wird versuchen, Glaubensgrundsätze durch Tatsachen zu belegen; er wird vor seinen Schülern nicht als Allwissender posieren, noch wird er der Machtliebe unter dem Vorwand nachgeben, er habe es auf das absolut Gute abgesehen. Machtliebe ist für den Erzieher wie für den Politiker die Hauptgefahr. Der Mann, dem man in Erziehungsangelegenheiten Vertrauen schenken kann, muss sich um seine Schüler um ihrer selbst willen kümmern und nicht darum, weil er sie als künftige Soldaten einer Armee oder als Propagandisten einer Partei sieht. Fichte und die Mächtigen, die seine Ideale übernommen haben, denken beim An–
blick von Kindern: »Hier ist das Material, das ich handhaben kann, das ich lehren kann, wie eine Maschine meinen Zwecken dienstbar zu sein; für den Augenblick mag ich erfüllt sein von Lebensfreude, Spontaneität, dem Trieb zu spielen, dem Willen nach einem Leben, dessen Sinn aus ihm selbst kommt, statt ihm von außen aufgezwungen zu werden; aber all das wird tot sein nach den
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