Machtkampf
den Mann direkt neben dem Gleisbett gesehen und inständig gehofft, dass er dort bleiben möge. Die Helikopterbesatzung meldete, dass sie ihn nach der Vorbeifahrt des Zuges noch gesichtet habe. Der Pilot ließ die Maschine in der Luft schweben, während sein Kollege auf dem linken Sitz das Fernglas an die Augen drückte und den Gesuchten trotz einbrechender Dämmerung im Visier hatte. »Er läuft jetzt auf den Schienen abwärts«, teilte er mit.
»Ich geh noch weiter runter«, entschied der Pilot, nachdem er den Abstand zu den am Steilhang stehenden Bäumen kritisch betrachtet hatte. »Schalt den Lautsprecher ein.«
Sein Kollege betätigte einige Schalter und holte das Mikrofon aus der Halterung. »Herr Kugler«, sprach er langsam und deutlich, während draußen seine Stimme über einen starken Lautsprecher das Rotorengeräusch übertönte. »Bitte bleiben Sie stehen. Wir sind gekommen, Ihnen zu helfen.«
Kugler, der längst auf den Hubschrauber aufmerksam geworden war, kam tatsächlich der Aufforderung nach und sah nach oben.
»Ihre Frau macht sich große Sorgen um Sie«, sagte der Polizist, während Kugler nun wieder auf den Schwellen weiterstapfte. Knapp 50 Meter entfernt, so schätzte der Beamte, erreichte der Mann jene Stelle, an der die Gleise auf einem steil hochbetonierten Damm verliefen und einen Taleinschnitt überquerten. Von dort konnte sich Kugler, wenn er’s darauf abgesehen hatte, auf die Bundesstraße 10 hinabstürzen.
Sandra Kowick hatte endlich in die Realität zurückgefunden. Es gelang ihr sogar, einen Assistenzarzt, der sie am Abend untersuchen wollte, von der Dringlichkeit eines Telefongesprächs zu überzeugen. Zwar hatte er versucht, ihr klarzumachen, dass es zu einem Rückschlag käme, falls sie sich erneut aufregte. Als sie jedoch hartnäckig darauf drängte, die Kriminalpolizei anrufen zu müssen, da es um einen wichtigen Hinweis gehe, wählte der Arzt auf seinem Handy die Nummer der Polizei in Geislingen selbst, um sicherzustellen, dass die Frau niemand anderen anrief. Er ließ sich, wie von Sandra Kowick gewünscht, August Häberle geben und reichte anschließend das Gerät an sie weiter. Als Häberle erfuhr, wer ihn sprechen wollte, zeigte er sich erfreut darüber und erkundigte sich zunächst nach dem Befinden der Anruferin. Diese ging jedoch auf die Frage gar nicht ein, weil sie vor Aufregung ohnehin kaum einen Satz formulieren konnte. »Mompach«, stammelte sie, »Mompach ist an allem schuld. Er will den Pfarrer in den Tod treiben.« Sie hob ihren Oberkörper aus den Kissen, was der Arzt kritisch beobachtete und es bereits bereute, seiner Patientin das Handy überlassen zu haben. Sie zitterte und hatte Mühe weiterzureden. »Mit Manuel und mir«, flüsterte sie ins Telefon, als wolle sie vermeiden, dass jemand mithörte. »Mit Manuel«, wiederholte sie und es schien, als breche wieder alles über sie herein. Die Sirene, die Flammen – und – wo war Manuel? Sie ließ ein paar Sekunden verstreichen, starrte dabei zu der Infusionsflasche und flüsterte weiter: »Mompach hat uns gezwungen. Mich und Manuel.« Sie begann zu schluchzen. »Wir haben gelogen.« Plötzlich rief sie: »Wo ist Manuel? Sagen Sie mir, wo Manuel ist!« Sie wurde von einem Weinkrampf geschüttelt, weshalb ihr der Arzt das Handy aus der Hand nahm und es selbst ans Ohr hielt. »Hier spricht Dr. Pockfeld«, sagte er, »ich muss leider das Gespräch beenden. Die Patientin ist aus meiner Sicht noch nicht vernehmungsfähig.«
Kugler hatte sich von der Lautsprecherdurchsage aus dem Helikopter nicht beirren lassen. Er war inzwischen auf dem betonierten Damm angekommen, hatte sich mit dem kräftigen Oberkörper über das dünne Geländer talwärts gelehnt und es mit den Händen umklammert. Er fröstelte und war außer Atem, als er diese nahezu senkrechte Betonwand hinabsah, wo ganz unten die Bundesstraße entlangführte.
»Herr Kugler«, prasselte die Stimme des Polizisten wieder auf ihn nieder, »Ihre Frau macht sich große Sorgen«, wiederholte der Beamte, der sich in dieser Situation einen Psychologen an seiner Seite gewünscht hätte. Während er den Mann neben den Gleisen nicht aus den Augen ließ und nach neuen Formulierungen suchte, hörte er im Kopfhörer ein Funkgespräch mit, das der Pilot mit Häberle führte. »Achtung, neue Situation. Kugler ist unschuldig. Sagen Sie ihm das.« Auch Häberles Stimme verriet große Aufregung. »Sagen Sie ihm, dass Frau Kowick – ich buchstabiere den Namen: Konrad,
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