Machtlos
die vermutlich schon den kompletten Alkoholvorrat an Bord vernichtet hatten. Neben ihm schilderte ein oberlehrerhafter Deutscher mit penetranter Stimme seit mehr als zwei Stunden seiner Sitznachbarin auf der anderen Seite mit unerträglicher Detailverliebtheit alle Sehenswürdigkeiten, die sie in den kommenden zehn Tagen in der Türkei und in Istanbul erwarteten. Er schwieg nur, wenn er aß oder wie in diesem Moment krampfhaft seine Füße gegen den Boden stemmte, als könne er so die Luftlöcher, durch die das Flugzeug fiel, beseitigen. In seinem Zorn hatte Burroughs eine Reihe von möglichen, sehr unangenehmen Todesarten für ihn ersonnen, aber befriedigt hatte ihn dieses Gedankenspiel nicht. Stattdessen war ihm lediglich bewusst geworden, dass er nicht einmal eine Waffe besaß. Er hatte sie in Hannover am Flughafen in einem Schließfach deponiert. Sein Gepäck hatte er in Hamburg zurücklassen müssen. Die größte Sorge machte ihm in diesem Zusammenhang sein Laptop. Alle relevanten Inhalte waren verschlüsselt, und die wichtigsten Daten hatte er auf einem Server gespeichert, dessen Zugangscodes nur in seinem Kopf zu finden waren. Dennoch blieb ein Restrisiko.
Er war auf einen solchen Fall vorbereitet gewesen. Alle, die in diesem Job arbeiteten, waren es, und wenn nicht, waren sie Idioten. Es konnte einen immer treffen, irgendwo, unverhofft. Und dann war es komfortabel bis lebensnotwendig, einen Plan B zu haben.
Burroughs’ Plan B bestand aus dem Verlassen der Stadt und der Anfahrt des nächsten Flughafens im Umkreis von zweihundert Kilometern, wo er mit falschen Papieren den erstbesten Flug ins Ausland nahm. So war er nach Hannover gekommen und dort in die Maschine nach Istanbul gestiegen. Ausgerechnet in die Türkei.
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Nach seiner Ankunft würde er die großen Hotels meiden müssen und sich auf einem der Märkte mit Plagiaten von Markenkleidung eindecken, die dort zuhauf angeboten wurden. Er kam sich jetzt schon lächerlich vor bei dem Gedanken, in Jeans, Pullover und Turnschuhen herumzulaufen und zur Krönung noch eins dieser entsetzlichen Baseballcaps aufzusetzen. Aber niemand würde ihn in seiner solchen Aufmachung so schnell wiedererkennen.
Er durfte nicht länger bleiben als nötig. Er musste weiter. In eine Stadt, in deren Dunst er ein, zwei Jahre abtauchen konnte, bis sich die Wogen geglättet hatten. Istanbul war zu nah. Vielleicht war Asien eine Option. Die Philippinen. Niemand wunderte sich in Manila über einen in die Jahre gekommenen Weißen. Es gab einige, die dort gestrandet waren, mehr oder weniger heruntergekommen, in Kneipen hockend, den Arm um die Taille kleiner Mädchen gelegt. Die Vorstellung ekelte ihn plötzlich an. Es gab andere Städte, andere Möglichkeiten, Geld auszugeben, das nicht das seine war, und gleichzeitig seiner neuen Identität die Chance zu geben, sich zu etablieren. Das Flugzeug wackelte erneut. Die Anschnallzeichen leuchteten auf, und Burroughs’ Sitznachbar krallte seine Finger in die Armlehnen. Burroughs blickte durch das kleine Fenster auf die sich unter ihnen auftürmenden Wolkenberge, die Schatten, die sie auf sich selbst warfen, und fragte sich, was Marcia Moore wohl gerade machte.
* * *
Marc Weymann starrte ungläubig auf die Einladung auf seinem Schreibtisch. Sollte das die Entschädigung sein für alles, was geschehen war? Eine Einladung zu einem Gala-Dinner im Vorfeld des Gipfels mit der gesamten Politprominenz der Nation? Glaubten sie, damit alles gutmachen zu können? Er griff zum Telefonhörer.
»Meisenberg, stecken Sie dahinter?«, fragte er ungehalten.
Der Anwalt äußerte sich nicht dazu. »Sie sollten die Einladung annehmen«, erwiderte er stattdessen. »Der Wirtschaftsminister wird auch da sein. Es wird Gelegenheit bestehen, über ein paar interessante Aufträge zu sprechen …«
»Die Reederei hat genug zu tun«, fiel Marc dem Anwalt ins Wort.
Meisenberg räusperte sich am anderen Ende der Leitung. »Regierungsaufträge sind gut bezahlt«, sagte er schließlich.
Marc ballte die Fäuste. Er konnte die Einladung nicht ausschlagen, ohne seine Vorstandskollegen und den Aufsichtsrat der Reederei zu brüskieren. Sie hatten in den vergangenen Wochen die Situation schweigend mitgetragen, und Marc wusste, dass nicht alle aus Überzeugung gehandelt hatten. Er konnte sich keine weiteren Eskapaden leisten. Meisenberg wusste das auch. Die Reederei war besser aufgestellt als die Konkurrenz, und die Krise
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