Madame Bovary
Fensterläden. Inzwischen pfiff
der Wind durch die schlecht schließenden Wagenfenster.
Allmählich füllten sich die vier Bänke. Der Wagen rollte jetzt
schneller hin. Die Apfelbäume an den Straßenrändern folgten sich
rascher. Aber zwischen den beiden mit gelblichem Wasser gefüllten
Gräben dehnte sich die Chaussee noch endlos hin bis in den
Horizont.
Emma kannte jede Einzelheit des Weges. Sie wußte genau, wann
eine Wiese oder eine Wegsäule kam oder eine Ulme, eine Scheune, das
Häuschen eines Straßenwärters. Manchmal schloß sie die Augen eine
Weile, um sich überraschen zu lassen. Aber sie verlor niemals das
Gefühl für Zeit und Ort.
Endlich erschienen die ersten Backsteinhäuser. Der Boden dröhnte
unter den Rädern, rechts und links lagen Gärten, durch deren Gitter
man Bildsäulen, Lauben, beschnittene Taxushecken und Schaukeln
erblickte. Dann, mit einemmal, tauchte die Stadt auf.
Sie lag vor Emma wie ein Amphitheater in der von leichtem Dunst
erfüllten Tiefe. Jenseits der Brücken verlief das Häusermeer in
undeutlichen Grenzen. Dahinter dehnte sich flaches Land in
eintönigen Linien, bis es weit in der Ferne im fahlen Grau des
Himmels verschwamm. So aus der Vogelschau sah die ganze Landschaft
leblos wie ein Gemälde aus. Die vor Anker liegenden Zillen drängten
sich in einem Winkel zusammen. Der Strom wand sich im Bogen um
grüne Hügel, und die länglichen Inseln in seinen Fluten glichen
großen schwarzen, tot daliegenden Fischen. Aus den hohen
Fabrikessen quollen dichte braune Rauchwolken, die sich oben in der
Luft auflösten. In das Dröhnen der Dampfhämmer mischte sich das
helle Glockengeläut der Kirchen, die aus dem Dunste hervorragten.
Die blätterlosen Bäume auf den Boulevards wuchsen aus den
Häusermassen heraus wie violette Gewächse,
und die vom Regen nassen Dächer glitzerten stärker oder schwächer,
je nach der höheren oder tieferen Lage der Stadtteile. Bisweilen
trieb ein frischer Windstoß das dunstige Gewölk nach der Sankt
Katharinen-Höhe hin, an deren steilen Hängen sich die luftige Flut
geräuschlos brach.
Emma empfand jedesmal eine Art Schwindel, wenn sie die Stadt,
diese Ansammlung von Existenzen, so vor sich sah. Das Blut stürmte
ihr heftiger durch die Adern, als ob ihr die
hundertundzwanzigtausend Herzen, die da unten schlugen, den Brodem
der Leidenschaften, die in ihnen lodern mochten, in einem einzigen
Hauche entgegensandten. Vor der Gewalt dieses Anblicks wuchs ihre
eigene Liebe, und das dumpfe Rauschen des Straßenlärms, das zu ihr
heraufdrang, hob ihre Stimmung. Die Plätze, die Straßen, die
Promenaden erweiterten und vergrößerten sich vor ihr, und die alte
Normannenstadt ward ihr zur Kosmopolis, zu einem zweiten Babylon,
in das sie Einzug hielt.
Sie lehnte sich aus dem Wagenfenster hinaus und sog die frische
Luft ein. Die drei Pferde liefen schneller, die Steine der
schmutzigen Landstraße knirschten, der Wagen schwankte. Hivert rief
die Fuhrwerke und Karren an, die vor ihm fuhren. Die Bürger, die
aus ihren Landhäusern im Wilhelmswalde zurückkehrten, wo sie die
Nacht über geblieben waren, wichen mit ihren Familienkutschen
gemächlich aus.
Am Eingang der Stadt hielt die Post. Emma entledigte sich ihrer
Überschuhe, zog andre Handschuhe an, zupfte ihren Schal zurecht und
stieg aus.
In der Stadt wurde es lebendig. Die Lehrjungen putzten die
Schaufenster der Läden. Marktweiber mit Körben schrien an den
Straßenecken ihre Waren aus. Emma drückte sich mit
niedergeschlagenen Augen an den Häusermauern entlang. Unter ihrem
herabgezogenen schwarzen Schleier lächelte sie vergnügt.
Um nicht beobachtet zu werden, machte sie
Umwege. Durch düstre Gassen hindurch gelangte sie endlich ganz
erhitzt zu dem Brunnen am Ende der Rue Nationale. Wegen der Nähe
des Theaters gibt es dort die meisten Kneipen. Es wimmelt von
Frauenzimmern. Ein paarmal fuhren Karren mit Bühnendekorationen an
Emma vorüber. Beschürzte Kellner streuten Sand auf das Trottoir,
zwischen Kästen mit grünen Gewächsen. Es roch nach Absinth,
Zigarren und Austern.
Emma bog in die verabredete Straße ein. Da stand Leo. Sie
erkannte ihn schon von weitem an dem welligen Haar, das sich unter
seinem Hute zeigte. Er ging ruhig weiter. Sie folgte ihm nach dem
Boulogner Hof. Er stieg vor ihr die Treppe hinauf, öffnete die Tür
und trat ein….
Eine leidenschaftliche Umarmung! Liebesworte und Küsse ohne
Ende! Sie erzählten sich vom Leid der vergangenen Woche, von ihrem
Hangen und Bangen, von
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