Madame Bovary
wie
Männer mit bleichen Gesichtern und Frauen in abgetragenen Kleidern
im hinteren Eingang des Theatergebäudes verschwanden.
Der sehr niedrige Raum war überheizt. Mitten unter den Perücken
und Pomaden prasselte ein Ofen. Der Geruch der heißen Brennscheren
und der fettigen Hände, die sich mit ihrem Haar zu schaffen
machten, betäubte sie beinahe. Es fehlte nicht viel, so wäre sie
unter ihrem Frisiermantel eingeschlafen.
Wiederholt bot ihr der Friseur Billette zum Maskenball an.
Dann ging sie fort, die Straßen wieder hinan, zurück ins »Rote
Kreuz«. Sie suchte ihre Überschuhe hervor, die sie am Vormittag
unter einem Sitz der Postkutsche versteckt hatte, und nahm ihren
Platz ein, unter den bereits ungeduldigen Mitfahrenden. Wo die
steile Strecke begann, stiegen alle aus. Emma blieb allein im Wagen
zurück.
Von Serpentine zu Serpentine sah sie in der Tiefe, unten in der
Stadt, immer mehr Lichter. Sie bildeten zusammen ein weites
Lichtermeer, in dem die Häuser verschwanden. Auf dem Sitzpolster
kniend, tauchte sie ihre Blicke in diesen Glanz. Schluchzend
flüsterte sie den Namen Leos vor sich hin, küßte ihn in Gedanken
und rief ihm leise Koseworte nach, die der Wind verschlang.
Oben auf der Höhe trieb sich ein Bettler herum, der die
Postwagen ablauerte. Er war in Lumpen gehüllt, und ein alter
verwetterter Filzhut, rund wie ein Becken, verdeckte sein Gesicht.
Wenn er ihn abnahm, sah man in seinen Augenhöhlen zwei blutige
Augäpfel mit Löchern an Stelle der Pupillen. Das Fleisch schälte
sich in roten Fetzen ab, und eine grünliche Flüssigkeit lief
heraus, die an der Nase gerann, deren schwarze Flügel nervös zuckten. Wenn man ihn ansprach, grinste er
einen blöd an. Dann rollten seine bläulichen Augäpfel fortwährend
in ihrem wunden Lager.
Er sang ein Lied, in dem folgende Stelle vorkam:
»Wenns Sommer worden weit und breit,
Wird heiß das Herze mancher Maid…«
Manchmal erschien der Unglückliche ohne Hut ganz plötzlich
hinter Emmas Sitz. Sie wandte sich mit einem Aufschrei weg.
Hivert pflegte den Bettler zu verhöhnen. Er riet ihm, sich auf
dem nächsten Jahrmarkt in einer Bude sehen zu lassen, oder er
fragte ihn, wie es seiner Liebsten ginge.
Einmal streckte der Bettler seinen Hut während der Fahrt durch
das Wagenfenster herein. Er war draußen auf das kotbespritzte
Trittbrett gesprungen und hielt sich mit einer Hand fest. Sein erst
schwacher und kläglicher Gesang ward schrill. Er heulte durch die
Nacht, ein Klagelied von namenlosem Elend. Das Schellengeläut der
Pferde, das Rauschen der Bäume und das Rasseln des Wagens tönten in
diese Jammerlaute hinein, so daß sie wie aus der Ferne zu kommen
schienen. Emma war tieferschüttert. Empfindungen brausten ihr durch
die Seele wie wilder Wirbelsturm durch eine Schlucht. Grenzenlose
Melancholie ergriff sie.
Inzwischen hatte Hivert bemerkt, daß eine fremde Last seinen
Wagen beschwerte. Er schlug mit seiner Peitsche mehrere Male auf
den Blinden ein. Die Schnur traf seine Wunden; er fiel in den
Straßenkot und stieß ein Schmerzensgeheul aus.
Die Insassen des Wagens waren nach und nach eingenickt. Die
einen schliefen mit offenem Munde; andern war das Kinn auf die
Brust gesunken; der lag mit seinem Kopfe an der Schulter des
Nachbars, und jener hatte den Arm in dem Hängeriemen, der je nach
den Bewegungen des Wagens hin und her schaukelte. Der Schein der
Laterne drang durch die schokoladenbraunen Kattunvorhänge und bedeckte die unbeweglichen
Gestalten mit blutroten Lichtstreifen. Emma war wie krank vor
Traurigkeit. Sie fror unter ihren Kleidern. Ihre Füße wurden ihr
kälter und kälter. Sie fühlte sich sterbensunglücklich.
Zu Hause wartete Karl auf sie. Donnerstags hatte die Post immer
Verspätung. Endlich kam sie. Das Essen war noch nicht fertig, aber
was kümmerte sie das? Das Dienstmädchen konnte jetzt machen, was es
wollte.
Es geschah oft, daß Karl, dem Emmas Blässe auffiel, sie fragte,
ob ihr etwas fehle.
»Nein!« antwortete sie.
»Aber du bist so sonderbar heute abend?«
»Ach nein, nicht im geringsten!«
Manchmal ging sie sofort nach ihrer Ankunft in ihr Zimmer. Oft
war gerade Justin da und bediente sie stumm und behutsam, besser
als eine Kammerzofe. Er stellte den Leuchter und die Streichhölzer
zurecht, legte ihr ein Buch hin und das Nachthemd und deckte das
Bett auf.
»Gut!« sagte sie. »Du kannst gehn.«
Er blieb nämlich immer noch eine Weile an der Türe stehen und
blickte Emma mit starren Augen wie
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