Madame Bovary
entfaltete es und
las: »Liebe Emma! Sei tapfer! Ich will Dir Deine Existenz nicht
zertrümmern….« Es war Rudolfs Brief, der zwischen die Kisten
gefallen und dort liegen geblieben war, bis ihn der durchs
Dachfenster wehende Luftzug an die Türe getrieben hatte. Karl stand
ganz starr da, mit offnem Munde, just auf demselben Platz, wo
dereinst Emma, bleicher noch als er, aus Verzweiflung in den Tod
gehen wollte. Am Ende der zweiten Seite stand als Unterschrift ein
kleines R. Wer war das? Er erinnerte sich der vielen Besuche und
Aufmerksamkeiten Rudolf Boulangers, seines plötzlichen Ausbleibens
und der gezwungenen Miene, die er gehabt, wenn er ihnen später – es
war zwei- oder dreimal gewesen – begegnet
war. Aber der achtungsvolle Ton des Briefes täuschte ihn.
»Das scheint doch nur eine platonische Liebelei gewesen zu
sein!« sagte er sich.
Übrigens gehörte Karl nicht zu den Menschen, die den Dingen bis
auf den Grund gehen. Er war weit davon entfernt, Beweise zu suchen,
und seine vage Eifersucht ging auf in seinem maßlosen Schmerze.
»Man mußte sie anbeten!« sagte er bei sich. »Es ist ganz
natürlich, daß alle Männer sie begehrt haben!« Nunmehr erschien sie
ihm noch schöner, und es überkam ihn ein beständiges heißes
Verlangen nach ihr, das ihn trostlos machte und das keine Grenzen
kannte, weil es nicht mehr zu stillen war.
Um ihr zu gefallen, als lebte sie noch, richtete er sich nach
ihrem Geschmack und ihren Liebhabereien. Er kaufte sich
Lackstiefel, trug feine Krawatten, pflegte seinen Schnurrbart und –
unterschrieb Wechsel wie sie. So verdarb ihn Emma noch aus ihrem
Grabe heraus.
Karl sah sich genötigt, das Silberzeug zu verkaufen, ein Stück
nach dem andern, dann die Möbel des Salons. Alle Zimmer wurden
kahl, nur »ihr Zimmer« blieb wie früher. Nach dem Essen pflegte
Karl hinaufzugehen. Er schob den runden Tisch an den Kamin und
rückte ihren Sessel heran. Dem setzte er sich gegenüber. Eine Kerze
brannte in einem der vergoldeten Leuchter. Berta, neben ihm,
tuschte Bilderbogen aus.
Es tat dem armen Manne weh, wenn er sein Kind so schlecht
gekleidet sah, mit Schuhen ohne Schnüre, die Nähte des Kleidchens
aufgerissen, denn darum kümmerte sich die Aufwartefrau nicht. Berta
war sanft und allerliebst. Wenn sie das Köpfchen graziös neigte und
ihr die blonden Locken über die rosigen Wangen fielen, dann sah sie
so reizend aus, daß ihnunendliche Zärtlichkeit
ergriff, eine Freude, die nach Wehmut schmeckte, wie ungepflegter
Wein nach Pech. Er besserte ihr Spielzeug aus, machte ihr
Hampelmänner aus Pappe und flickte sie aufgeplatzten Bäuche ihrer
Puppen. Wenn seine Augen dabei auf Emmas Arbeitskästchen fielen,
auf ein Band, das liegengeblieben war, oder auf eine Stecknadel,
die noch in einer Ritze des Nähtisches steckte, dann verfiel er in
Träumereien und sah so traurig aus, daß das Kind auch mit traurig
wurde.
Kein Mensch besuchte sie mehr. Justin war nach Rouen
davongelaufen, wo er Krämerlehrling geworden war, und die Kinder
des Apothekers ließen sich auch immer seltner sehen, da ihr Vater
bei der jetzigen Verschiedenheit der gesellschaftlichen
Verhältnisse auf eine Fortsetzung des näheren Verkehrs keinen Wert
legte.
Der Blinde, den Homais mit seiner Salbe nicht hatte heilen
können, war auf die Höhe am Wilhelmswalde zurückgekehrt und
erzählte allen Reisenden den Mißerfolg des Apothekers. Wenn Homais
zur Stadt fuhr, versteckte er sich infolgedessen hinter den
Vorhängen der Postkutsche, um eine Begegnung mit ihm zu vermeiden.
Er haßte ihn, und da er ihn zugunsten seines Rufes als Heilkünstler
um jeden Preis aus dem Wege räumen wollte, legte er ihm einen
Hinterhalt. Die Art und Weise, wie er das bewerkstelligte,
enthüllte ebenso seinen Scharfsinn wie seine bis zur Verruchtheit
gehende Eitelkeit. Sechs Monate hintereinander konnte man im
»Leuchtturm von Rouen« Nachrichten wie die folgenden lesen:
»Wer nach den fruchtbaren Gefilden der Pikardie reist,
wird ohne Zweifel auf der Höhe am Wilhelmswalde einen Vagabunden
bemerkt haben, der mit einem ekelhaften Augenleiden behaftet ist.
Er belästigt und verfolgt die Reisenden, erhebt von ihnen
gewissermaßen einen Zoll. Leben wir denn noch in den abscheulichen
Zeiten des Mittelalters, wo es den
Landstreichern erlaubt war, auf den öffentlichen Plätzen die Lepra
und die Skrofeln zur Schau zu stellen, die sie von einem der
Kreuzzüge mitgebracht hatten?«
Oder:
»Ungeachtet der Gesetze gegen das
Weitere Kostenlose Bücher