Madame Bovary
ein polnischer Refúgié, in der vergangenen Nacht das Weite
gesucht hatte. Er schrieb an den dortigen Apotheker und erkundigte
sich, wieviel Einwohner der Ort habe, wie weit die nächsten
Kollegen entfernt säßen und wie hoch die Jahreseinnahme des
Verschwundenen gewesen sei. Die Antwort fiel befriedigend aus, und
infolgedessen entschloß sich Bovary, zu Beginn des kommenden
Frühjahres nach Abtei Yonville überzusiedeln, falls sich Emmas
Zustand noch nicht gebessert habe.
Eines Tages kramte Emma des bevorstehenden Umzuges wegen in
einem Schubfache. Da riß sie sich in den Finger und zwar an einem
der Drähte ihres Hochzeitsstraußes. Die Orangenknospen waren grau
vor Staub, und das Atlasband mit der silbernen Franse war
ausgefranst. Sie warf den Strauß in das Feuer. Er flackerte auf wie
trocknes Stroh. Eine Weile glühte er noch wie ein feuriger Busch
über der Asche, dann sank er langsam in sich zusammen. Nachdenklich
sah Emma zu. Die kleinen Beeren aus Pappmasse platzten, die Drähte
krümmten sich, die Silberfransen schmolzen. Die verkohlte
Papiermanschette zerfiel, und die Stücke flatterten im Kamine hin
und her wie schwarze Schmetterlinge, bis sie in den Rauchfang
hinaufflogen….
Bei dem Weggange von Tostes, im März, ging Frau Bovary einer
guten Hoffnung entgegen.
Teil 2
Kapitel 1
Abtei Yonville (so genannt nach einer ehemaligen Kapuzinerabtei,
von der indessen nicht einmal mehr die Ruinen stehen) ist ein
Marktflecken, acht Wegstunden östlich von Rouen, zwischen der
Straße von Abbeville und der von Beauvais. Der Ort liegt im Tale
der Rieule, eines Nebenflüßchens der Andelle. Nahe seiner
Einmündung treibt der Bach drei Mühlen. Er hat Forellen, nach denen
die Dorfjungen reihenweise an den Sonntagen zu ihrer Belustigung
angeln.
Man verläßt die Heeresstraße bei La Boissière und geht auf der
Hochebene bis zur Höhe von Leux, wo man das Tiefland offen vor sich
liegen sieht. Der Fluß teilt es in zwei deutlich unterscheidbare
Hälften: zur Linken Weideland, rechts ist alles bebaut. Diese
Prärie, die sich bis zu den Triften der Landschaft Pray hinzieht,
wird von einer ganz niedrigen Hügelkette begrenzt, während die
Ebene gegen Osten allmählich ansteigt und sich im Unermeßlichen
verliert. So weit das Auge reicht, schweift es über meilenweite
Kornfelder. Das Gewässer sondert wie mit einem langen weißen Strich
das Grün der Wiesen von dem Blond der Äcker, und so liegt das ganze
Land unten ausgebreitet da wie ein riesiger gelber Mantel mit einem
grünen silberngesäumten Samtkragen.
Fern am Horizont erkennt man geradeaus den Eichwald von Argueil
und die steilen Abhänge von Sankt Johann mit ihren eigentümlichen,
senkrechten, ungleichmäßigen roten Strichen. Das sind die Wege, die
sich das Regenwasser sucht; und die roten Streifen auf dem Grau der
Berge rühren von den vielen eisenhaltigen Quellen drinnen im
Gebirge her, die ihr Wasser nach allen Seiten hinab ins Land
schicken.
Man steht auf der Grenzscheide der Normandie, der
Pikardie und der Ile-de-France, inmitten
eines von der Natur stiefmütterlich behandelten Geländes, das weder
im Dialekt seiner Bewohner noch in seinem Landschaftsbilde besondre
Eigenheiten aufweist. Von hier kommen die allerschlechtesten Käse
des ganzen Bezirks von Neufchâtel. Allerdings ist die
Bewirtschaftung dieser Gegend kostspielig, da der trockene steinige
Sandboden viel Dünger verlangt.
Bis zum Jahre 1835 führte keine brauchbare Straße nach Yonville.
Erst um diese Zeit wurde ein sogenannter ›Hauptvizinalweg‹
angelegt, der die beiden großen Heeresstraßen von Abbeville und von
Amiens untereinander verbindet und bisweilen von den Fuhrleuten
benutzt wird, die von Rouen nach Flandern fahren. Aber trotz dieser
›neuen Verbindungen‹ gelangte Yonville zu keiner rechten
Entwicklung. Anstatt sich mehr auf den Getreidebau zu legen, blieb
man hartnäckig immer noch bei der Weidebewirtschaftung, so kargen
Gewinn sie auch brachte; und die träge Bewohnerschaft baut sich
auch noch heute lieber nach dem Berge statt nach der Ebene zu an.
Schon von weitem sieht man den Ort am Ufer lang hingestreckt
liegen, wie einen Kuhhirten, der sich faulenzend am Bache
hingeworfen hat.
Von der Brücke, die über die Rieule führt, geht der mit Pappeln
besäumte Fahrweg in schnurgerader Linie nach den ersten Gehöften
des Ortes. Alle sind sie von Hecken umschlossen. Neben den
Hauptgebäuden sieht man allerhand ordnungslos angelegte
Nebenhäuschen, Keltereien, Schuppen
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