Madame Zhou und der Fahrradfriseur
prall gefüllte lederne Umhängetasche.
Irina sagt, dass sie schon Tee getrunken haben und sich auch wegen des »nicht sauberen« Wodkas und weil sie das Geschenk des Vaters vergessen hat, mit mir nicht im Restaurant unterhalten möchten. Nur 10 Minuten entfernt, in der Xindong Lu, befinde sich das Büro von Madame Zhou.
Ich möchte der kleinen Frau unterwegs die schwere Umhängetasche abnehmen, aber Irina protestiert. »Madame Zhou ist sehr kräftig. Sie hat in einer Papierfabrik schon zentnerschwere Kartons geschleppt.«
Ihr Büro, ein winziges Zimmer in einem Schuppen, der hinter dem Nebenhaus eines zweistöckigen Haupthauses steht, hat Frau Zhou wohnlich eingerichtet. Eine Kochplatte, zwei Töpfe, ein Wasserkanister, drei Büchsen mit grünem, weißem und schwarzem Tee, ein Blumentopf mit einem Weihnachtsstern und ein Strauß getrockneter Gräser, ein Computertisch mit Drucker und PC, unter dem vier Hocker stehen, und Regale, in denen sich Broschüren und Papiere stapeln. Neben einem goldgerahmten Porträt von Mao hängt die Schwarz-Weiß-Fotografie eines alten Ehepaares, das sehr ernst schaut und in gerader Haltung vor einer noch kleinen Kiefer steht.
Der Chor aus Parkbesuchern
»Das sind die Eltern von Madame Zhou«, sagt Irina.
»Doch weder die Mutter noch der Vater ist so klein wie Madame Zhou«, entgegne ich.
»Meine Eltern waren groß und kräftig, nur ich blieb klein und zierlich. Vielleicht weil sie mir den Namen Hua gegeben haben.« Hua könnte man mit »kleine, blühende Blume« übersetzen. Sie lacht. »Heute schon eine verwelkte Blume, doch wo wir damals wohnten, in einem sehr kalten und steinigen Bergdorf von Hua’an, gab es diesen Namen sehr häufig. Wäre es nach dem Vater gegangen, hätte ich Lan, ›Orchidee‹, geheißen.«
Ich sage Madame Hua Zhou: »Irina hat mir erzählt, dass Sie als Kind bei einem Unglück die rechte Hand verloren haben.«
Sie nickt.
»Es war 1970 und ich schon kein Kind mehr. Ich war 13 Jahre alt, zwar klein, aber sehr stark, und arbeitete nach der Schule im Felsgebirge, wo wir Steine für den Bau der Häuser herausgebrochen haben. Das Lernen fiel mir leicht, denn abends erzählte mir mein Ba-Ba, was andere Schüler mühsam nachlesen mussten. Er war der Lehrer in unserer Schule.«
Madame Zhou unterbricht sich und fragt, ob ich wüsste, was in den Jahren 1966 bis 1976 während der sogenannten »Großen Proletarischen Kulturrevolution« in China geschehen ist. Ich sage, dass ich darüber schon mit Chinesen gesprochen habe.
»Auch in unser Dorf kamen damals die jungen Leute der Roten Garden aus der Stadt. Sie schenkten den Kindern zuerst Amulette von Mao Zedong. Sie rezitierten sehr schöne Gedichte, die er verfasst hat. Eines ging so, ich kenne es noch auswendig:
Ein Gewitter regt sich,
Die Banner flattern, das ist die irdische Welt …
Wir können den Mond vom neunten Himmel pflücken,
In der Tiefe der fünf Meere Schildkröten fangen …
Auf der Welt gibt es keine Probleme,
Wenn wir bereit sind, in die Höhe zu klettern …«
Die Mädchen und Jungen der Roten Garden spielten mit uns Theaterstücke, in denen die Bauern und die Soldaten der Volksbefreiungsarmee Chiang Kai-shek und seine Söldner verjagten. Keiner von uns wollte damals Chiang Kai-shek spielen. Die Kulturrevolutionäre lehrten uns auch die Gebote der Revolution.«
Nachdem sie in einem Papierstapel gekramt hat, liest sie die Gebote andächtig vor, und Irina versucht mir einige zu übersetzen. »Jeder Bürger soll manuelle Arbeit verrichten … Luxusrestaurants und Taxis haben zu verschwinden … Die privaten finanziellen Gewinne und die Mieten müssen dem Staat abgeliefert werden … Die Lehren Mao Zedongs müssen schon im Kindergarten verbreitet werden … Die Intellektuellen sollen in den Dörfern arbeiten … Bankzinsen müssen abgeschafft werden …Die Mahlzeiten sollen von allen gemeinsam in den Kommunen eingenommen werden … Parfüms, Schmuckstücke, Kosmetik, nicht-proletarische Kleidungsstücke und Schuhe sind verboten … Die erste Klasse bei Eisenbahnen und luxuriöse Autos sind ebenfalls verboten … Die Verbreitung von Fotografien von sogenannten hübschen Mädchen soll eingestellt werden …«
Eines dieser Gebote hat sie nie vergessen. Madame Zhou zitiert es aus dem Kopf: »Bücher, die nicht das Denken Mao Zedongs wiedergeben, müssen verbrannt werden.«
»Eines Tages fanden sie in unserer Wohnung die Bücher meines Vaters, die er hinter den ›Betten‹ – wir schliefen
Weitere Kostenlose Bücher