Madame Zhou und der Fahrradfriseur
sich spontan.«
»Kleine Volkskunstensembles«, bemerke ich. »Doch in China sind sie nicht wie seinerzeit bei uns staatlich angeordnet, organisiert, gefördert und kontrolliert …«
Nach der Besichtigung des Himmelsaltars und dem Nachmittagskonzert im Park drängen wir uns durch die langen Gänge eines sich in der Nähe befindenden zweistöckigen Konsumtempels. Die wie Marktbuden Wand an Wand stehenden Geschäfte sind türlos offen. Kimonos und Blusen und Hemden und Jeans hängen an den Wänden. Teekannen, Essstäbchen, Handytaschen, Kugelschreiber und Federbälle liegen auf den Tischen. Schuhe und Taschen zuhauf unter den Tischen. Stoffballen in den Gängen.
Weil in einem Dutzend dieser Ladenbuchten oft die gleichen Waren angeboten werden, müssen die Verkäufer die vorübergehenden Ausländer wie in einem türkischen Basar überzeugen, dass es bei ihnen »the best things and the cheapest ware« gibt. Sie tun das nicht aggressiv und drängend, sondern lächelnd.
Für umgerechnet 10 Euro kaufe ich schließlich den größten Rollenkoffer, den ich je besessen habe. Ich bin überzeugt, dass ich ihn vor dem Rückflug mit materiellen Gütern – Kimonos, Gemälden, Kunstbüchern und Teekannen – randvollfüllen werde. Viel Platz hätte ich dagegen noch für ideelle Mitbringsel: Informationen über Land und Leute und meine Versuche zur Erklärung des chinesischen Wunders.
Mir bleiben nur noch wenige Tage für Gespräche und Erkundigungen. Fest vereinbart habe ich lediglich das Abschiedstreffen mit Herrn Wu Ming. Die Hoffnung, mit »Gelbfieber-Frank«, der schon wieder außerhalb von Peking arbeitet, über die »MAD DOG« zu sprechen, habe ich aufgegeben. Auch Igor Kusnezow konnte ich weder im Park noch im Restaurant der Xinyuan Nanlu finden, und ich werde wahrscheinlich weder seine deutsch sprechende Tochter Irina noch die sich um chinesische Wanderarbeiter kümmernde Madame Zhou treffen.
Als müsste er mich trösten, verspricht Klaus, dass wir am Abend mit deutschen Freunden in einem russischen Restaurant essen gehen. Dort wird es Pelmeni und Bliny und Speck und Soljanka geben.
Von Wodka spricht er nicht.
Doch den haben die deutschen Freunde schon auf dem Tisch. Es ist eine Flasche Original-Stolitschnaja. Die Gerichte dagegen erinnern mich weder an Speisen in Moskau noch in Nowosibirsk. Auch im russischen Restaurant kochen keine Russen, sondern Chinesen. Und halbnackte russische Mädchen, die als tanzende Beilage in einer Endlosschleife auf der großen Leinwand im Restaurant zu sehen sind, machen mir das zähe »kaukasische« Schaschlik nicht zarter.
Parkkonzert
In der Disco, die wir danach aufsuchen, ich glaube sie heißt »Chocolate«, kann man tanzende russische Strip-Mädchen in natura auf der Bühne bewundern. Aber ihre Brüste sind nicht nur wegen der künstlichen Illumination, sondern auch wegen der dichten Rauchschwaden im Saal nur undeutlich zu erkennen. Und die Sängerinnen sind kaum zu hören, und am Tisch kann man sich, ohne dass einer den anderen anschreit, nicht verständigen. Nur die Zeichensprache mit den chinesischen Kellnern, die über ihren weißen Hemden bayrische Hosenträger und englische Fliegen tragen, funktioniert. Wenn man den Daumen hebt, bringen sie eine Flasche Bier. Kaum ein Chinese und auch keiner der die russischen Lieder mitsingenden Russen an den Nachbartischen schauen zur Bühne. Man stiert auf den Tisch oder dreht sich im Kreis, um zu sehen, wen man kennt und wer einen kennen müsste. Ich suche für einen Moment Igor Kusnezow und muss über meine Einfalt lachen. Irgendwann nach Mitternacht endet der russische Abend.
Wahrscheinlich hatten Hegel und Engels mit ihrer Definition recht, dass der Zufall nur die Erscheinungsform der Notwendigkeit ist: Am nächsten Morgen ruft zwar nicht Igor Kusnezow, dafür aber seine Tochter Irina an.
Der Vater lässt sich entschuldigen, doch wenn ich möchte, würde sie mich mit Madame Zhou am Nachmittag im Restaurant in der Xinyuan Nanlu abholen.
Als ich die dicken, bunten Plastestreifen der Restauranttür zur Seite schiebe, stehen zwei sehr unterschiedliche Frauen vom Tisch auf. Irina ist zwar keine Riesin, aber die Frau nebenihr, die ebenfalls schwarzhaarig, aber schon älter ist, reicht ihr kaum bis zur Schulter. Ich gebe der kleinen, zerbrechlich wirkenden Frau zur Begrüßung nur andeutungsweise die Hand. Sie trägt ein schwarzes Kostüm mit roten Knöpfen, eine weiße Seidenbluse und rote Schuhe. Und passend zu den Schuhen eine rote
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