Madame Zhou und der Fahrradfriseur
In einigen Hutongs leben die Menschenzwischen jahrhundertealten Mauern auf engsten Raum zusammen. Viele haben dort nicht einmal drei Quadtratmeter Wohnfläche. Alle Menschen in China – nicht nur privilegierte Künstler oder der reiche Unternehmer – haben heute das Recht, gut zu leben. Und da streiten wir um den Abriss der Hutongs? Ein Nachbar ist für den Abriss, der andere Hausbesitzer dagegen. Sie streiten sich, und es wird überhaupt nichts passieren. Dann muss ein Kapitän entscheiden.«
»Ein Kapitän?«, frage ich. »Wer ist der Kapitän?«
»Der Kapitän ist die Regierung. Sie entscheidet, ob und wo abgerissen wird. Danach bietet sie privaten oder staatlichen Gesellschaften den Neubau von Häusern an. Aber diese Gesellschaften können nur die Nutzungsrechte kaufen. Niemals den Boden! Der Boden wird immer staatlich bleiben. In der Geschichte gab es schon viele Kriege, um fremden Boden zu erobern. Deutschland und Japan waren zu klein. Sie haben Kriege geführt, um sich zu vergrößern. China hat niemals wie die Europäer Kriege geführt, um sich zu vergrößern …
Wissen Sie, im Ausland kann man jeden Tag tausend Artikel gegen uns und unsere Politik schreiben. Das stört China nicht. Wir sind der Elefant, den der Hund anbellt. Und die großen westlichen Staaten können uns nicht mehr blockieren. Wenn sie uns blockieren, lähmen sie sich selbst. Sie verlieren nämlich ihren größten Markt.«
Er wechselt das Thema und versichert: »Wir lieben Deutschland, wir nennen es ›deguo – Land der Tugend‹. Doch die politische Grundhaltung der Deutschen unterscheidet sich sehr von der unsrigen.« Und er fragt, ob ich mir vorstellen könnte, dass bei der Vereinigung von BRD und DDR die Strukturen und Gesetze der DDR erhalten geblieben wären. »Also ein Land, aber zwei politische Systeme.«
Ich sage, dass in Deutschland nur das Prinzip »Ein Land – ein politisches System« durchgesetzt wurde.
Fahrradflickwerkstatt
»Wir dagegen,« erklärt Herr Wu Ming, »befolgen inzwischen auch in der großen Politik nicht das Entweder-oder-, sondern das Sowohl-als-auch-Prinzip. Heute, 13 Jahre nach der Vereinigung mit Hongkong, sind die ökonomischen und politischen Strukturen der kapitalistischen Hochburg Hongkong dort immer noch gültig. Das funktioniert gut.«
Nach dieser langen Rede schweigt Herr Wu Ming. Esscheint mir, als ob er damit einer Pflicht Genüge getan hat.
Dann trinken wir Tee. Grüner Tee, sagt er, ist nicht gut für den Magen. Und er bestellt schwarzen Tee.
Irgendwann will er wieder nach Deutschland fahren. Ich lade ihn ein, mich zu besuchen.
Vielleicht hätte ich ihn zum Schluss nicht noch bedrängen sollen, mir auch Persönliches zu erzählen. So laut er über die Politik gesprochen hat, so leise erzählt er von sich. Er hat 7 Geschwister. Sein Vater war der Parteisekretär der Kommune. Kulturrevolutionäre haben ihn zu Tode gequält. Zwei Jahre später starb die Mutter aus Kummer.
»Ich war weit weg beim Studium und konnte nicht einmal zum Begräbnis bei ihnen sein.«
Er versucht die Tränen zurückzuhalten.
Es gelingt ihm mit sehr viel Mühe. Zum Abschied schenkt er mir eine Dose mit weißem Tee und eine Dose mit rotem Tee.
Ich fahre mit der U-Bahn zurück. Draußen ist es noch kälter geworden.
Eine alte Frau versucht den großen Sonnenschirm, unter dem sie auf einem Fahrrad Teigtaschen kocht, so weit nach hinten zu kippen, dass er sie wie eine Orchestermuschel vor dem eisigen Wind schützt. Aus dem Wasserkessel steigen Dampfwolken. Mopedfahrer grüßen, obwohl direkt neben der Köchin ein Straßenschild das Hupen verbietet, mit lang anhaltenden schrillen Tönen.
Wenige Meter weiter parken in der Xinyuan Jie auf nur 50 Metern Hunderte Fahrräder und Mopeds.
Alle sind verstaubt, die Fahrräder meist ohne Gangschaltung. Angebrochene Rahmen hat man mit Pflaster oder Klebeband umwickelt. Kaum ein Fahrrad besitzt eine Klingel und kein einziges eine Lampe. (Schrieb ich schon, dass es inPeking Fahrradfahrern strengstens verboten ist, mit Licht zu fahren, um die Autos nicht zu blenden!?)
Auf dem Bürgersteig beladen die Besitzer die großen Gepäckträger und Anbauten ihrer Fahrräder mit Blumensträußen, mit Gläsern, in denen Fische schwimmen, mit Kartons, in denen Bücher gestapelt sind, mit Papierbündeln, Wasserflaschen und Kisten, gefüllt mit Erde.
Auf Schritt und Tritt begegne ich auch in der Kälte den Müllfrauen. Sie kehren Plaste, Papier und Blätter mit langen Besen auf ihre
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