Mädchen und der Leibarzt
linken Rheinufers an Frankreich. Seit dem 24. August 1802 tagte eine außerordentliche Reichsdeputation in Regensburg, um einen Entschädigungsplan für die deutschen Fürsten zu erarbeiten, die ihre Gebiete links des Rheins an Frankreich verloren hatten. Wie im Roman beschrieben, wurde jedoch noch während der Beratungen im Jahre 1802 allerorten zur Besitznahme geschritten, obwohl die Verhandlungen erst am 25. Februar 1803 mit dem Reichsdeputationshauptschluss endeten. Dieses letzte Reichsgrundgesetz bestimmte die Neuorganisation Deutschlands und
führte schließlich zur Auflösung des fast tausend Jahre währenden Heiligen Römischen Reiches.
Europäische Mächte kämpften in wechselnden Koalitionen gegen das revolutionäre Frankreich, das jedoch immer wieder als Sieger hervorging und die Friedensbestimmungen diktieren konnte. Dazu gehörten die Osterweiterung Frankreichs bis an den Rhein und ein Entschädigungsversprechen für linksrheinische Gebietsverluste an die deutschen Fürsten und Grafen, mit denen man es sich keineswegs verscherzen wollte. Im Gegenteil: Preußen verlor links des Rheins rund zweitausend Quadratkilometer mit rund 130 000 Einwohnern – und erhielt als Entschädigung 12 000 Quadratkilometer mit rund 560 000 Einwohnern. Württemberg bekam ein Vierfaches für die verlorenen Gebiete, Baden sogar das Siebenfache. Warum? Weil die späteren »Könige von Napoleons Gnaden« als abhängige Mittelstaaten einen Puffer zwischen Frankreich und dem ewigen Gegner Österreich schaffen und somit das neu eroberte Rheinufer sichern sollten.
Der militärisch und politisch geschwächte Kaiser Franz II. konnte den französischen Plänen nichts mehr entgegensetzen. Auch blieben der Papst und manche Bischöfe angesichts der bevorstehenden Kirchengüterenteignung erstaunlich ruhig. Zum einen begegnete der Papst der nicht besonders eng mit Rom verbundenen Reichskirche ohnehin mit Skepsis; zum anderen trugen die Klöster und Orden mit ihrer kulturellen Vielfalt und Eigenständigkeit als unberechenbare Elemente zu diesem Bild bei. Auch in der Öffentlichkeit regte sich wenig Widerstand. In Zeiten der
Aufklärung, in der sich alles im Wandel befand, hatte sich längst eine Abneigung gegen alles Traditionelle herausgebildet und somit auch gegen die Klöster und Orden. Für die Betroffenen hingegen kam die Auflösung der Damenstifte allerorten »wie aus heiterem Himmel«, da man eine solche »Ungeheuerlichkeit« nicht für möglich hielt.
Tatsächlich sah die Fürstäbtissin Sophie Albertine von Schweden (1753 – 1829) einer möglichen Stiftsauflösung derart gelassen entgegen, wie es die Korrespondenz mit ihrem Vetter, dem König von Preußen, belegt, die ich weitgehend originalgetreu übernommen habe.
Für Töchter aus gräflichen und fürstlichen Familien, die man gerade nicht verheiraten konnte oder wollte, waren die Stifte und somit die Pfründen eine hervorragende Möglichkeit der Unterbringung und Versorgung außerhalb der Familie. Falls sich dennoch eine gute Partie fand, konnten sie jederzeit in den Ehestand treten, da kein Gelübde abgelegt werden musste.
Die Damen sind als Romanfiguren beispielhaft für das Leben in einem Stift zu jener Zeit, das in unterschiedlicher Vielzahl anwesender Damen und (religiöser) Ausprägungsformen organisiert wurde. Da über die inneren Verhältnisse des evangelischen Damenstifts inmitten der Weltkulturerbestadt Quedlinburg stellenweise noch zu wenig bekannt ist, habe ich historische Gegebenheiten unter anderem aus den Stiften Buchau, Gandersheim und Essen ergänzt, um ein detailreiches Bild zu erhalten.
Über die Fürstäbtissin Sophie Albertine sagt der Zeitgenosse Ernst Moritz Arndt: »Hätte Gott diese Albertine als Mann ausgeprägt, wäre er von allen Vieren [unter den für die Thronfolge infrage kommenden Geschwister] der bedeutendste Charakter geworden.« Tatsächlich setzte sie einige Reformen im Schul- und Finanzwesen in die Tat um, richtete ein Armenhaus ein, strich überflüssige Stellen und gab die eingesparten Gelder an Bedürftige weiter. Schon eine Vorgängerin im Amt, Maria Elisabeth von Holstein-Gottorp (1718 – 1755), setzte sich für die Stärkung der Frauenrolle in der Gesellschaft ein, und diese aufgeklärte Haltung brachte wohl auch die Quedlinburgerin Dorothea Christiane Erxleben (1715 – 1762) dazu, ihre Dissertation dieser Fürstäbtissin zu widmen.
Gut möglich also, dass die Fürstäbtissin Albertine einem Mädchen wie Helena Fechtner die
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