Mädchen und der Leibarzt
Sonderzahlung?« Der alte Diener zeigte sich freudig überrascht. »Das heißt, ich könnte mich vielleicht endlich zur Ruhe setzen? Gott sei’s gelobt! Ich wusste, dass das ein besonderer Abend wird! Heißa, ist das ein Fest!«
Als sie gegen Mitternacht die Kutsche mit den Kisten beluden, hörten sie Friedemar und den Leibarzt ein paar lautstarke Worte wechseln, dann donnerte der Wagen des Leibarztes
an ihnen vorbei zum Stiftstor hinaus; Friedemar jagte ihm auf seinem Pferd nach.
Helena schaute noch einmal zum Sternenzimmer hinauf. In Gedanken betrat sie den Raum und ging auf Gregor zu, der eine Feder zwischen den Fingern zwirbelte und ihr lächelnd entgegensah. Sie tastete fröstelnd nach ihrem offenen Ärmelbündchen und presste die Enden fest zusammen.
Borginino verstaute die restlichen Habseligkeiten neben Ernestine und ihrer Tochter und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen, als er einen letzten Blick auf das Stift warf.
»Wir werden Aurelia ebenfalls nach Wien bringen«, beschloss Helena leise, während ihr die Fürstäbtissin zum Abschied die Hand reichte.
»Seid vorsichtig. Man glaubt gar nicht, was auf so einer Reise alles passieren kann!« Dabei zwinkerte sie Helena vertraulich zu.
Lukas lachte, er war bereit, neue Abenteuer zu erleben. Er half Helena auf den Kutschbock und ließ die Zügel schnalzen. Langsam rollte die Kutsche durch die nächtlichen Gassen, jeder der Reisegefährten nahm dabei stillen Abschied von Quedlinburg.
Erst als die Stadt schon hinter ihnen in der Dunkelheit versunken war und sie dem Wald näher kamen, ergriff Lukas das Wort: »Du hättest den Leibarzt und Friedemar nicht ziehen lassen dürfen, Helena. Die beiden werden sich in deinem Namen bereichern, und du hast doch den Beweis erbracht! Es ist dein Verdienst!«
»Darum geht es mir nicht. Entscheidend ist, dass das Mittel schnell unter der Bevölkerung bekanntgemacht wird.
Das ist die Hauptsache! Dass ich es war, die die Menschen von den Blattern befreit hat, ist nicht wichtig. Mich wird man ohnehin bald wieder vergessen haben.«
»Ich glaube, da irrst du dich.«
NACHWORT
Mit dem Reichsdeputationshauptschluss fand am 25. Februar 1803 die nahezu 900 Jahre währende Ära des Reichsstiftes Quedlinburg per Gesetz ein jähes Ende. Das gesamte Heilige Römische Reich geriet in Umbruch, und in Zahlen bedeutet dies: Über drei Millionen Menschen mussten sich einem neuen Landesherrn unterordnen und aus dem Flickenteppich von 300 selbstständigen Territorien wurden einundvierzig Flächen- und Stadtstaaten. In den süddeutschen Fürstentümern Bayern, Baden und Württemberg wurde das Vermögen von etwa 450 klösterlichen Einrichtungen weltlichen Machthabern zugeführt. Besonders interessant ist hierbei die Zwitterstellung der freiweltlichen Damenstifte, deren Status von jeher zwischen weltlich und kirchlich schwankte und deren rechtmäßige Auflösung, ähnlich wie die der stark verweltlichten Ritterorden, bis zuletzt fragwürdig blieb.
Die fürstlichen Herren ließen die Wertgegenstände ihres neuen Besitzes akribisch verzeichnen – bis hin zu den Kaffeelöffeln. Mit dem Kirchensilber wurde an den Höfen unterschiedlich verfahren. Der König von Preußen ließ als neuer Landesherr dem Stift Quedlinburg seine Schätze, erst am 24. April 1812 wurde auf Befehl des Königs von Westphalen der Schatz der Stiftskirche ins Museum nach Kassel
verbracht – jedoch nicht ganz vollständig. Der Herzog von Württemberg hingegen ließ sämtliche Monstranzen, Kelche und liturgischen Gewänder nach Ludwigsburg bringen, wo die Edelmetalle eingeschmolzen wurden, um Münzen und Tafelsilber daraus herzustellen. Und wer im Schloss Ludwigsburg die Sitzfläche des fürstlichen Throns näher betrachtet, wird anhand sakraler Motive wie Trauben und Ähren feststellen, dass es sich hier um ehemalige liturgische Gewänder handelt, die passend zurechtgeschnitten und verarbeitet wurden.
Wie konnte es so weit kommen? Mit Beginn der Napoleonischen Kriege 1792 wurden bereits die Weichen für die Ereignisse um 1803 gestellt. Der Leser möge mir verzeihen, dass ich die wahren geschichtlichen Ereignisse für das Romangeschehen zeitlich etwas verdichten musste. Als Beispiel sei genannt, dass die letzte österreichische Armee unter Erzherzog Karl bereits in der Schlacht bei Hohenlinden (Bayern) am 3. Dezember 1800 von General Moreau geschlagen wurde. Am 9. Februar 1801 bestätigte Kaiser Franz II. den Frieden von Lunéville und damit die Abtretung des
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