Maedchenauge
Okay? Ich brauche dringend ein echtes, gut gereiftes Wiener Kaffeehaus. Und natürlich dich, keine Frage!«
Gegen fünfzehn Uhr erschien Lily in einem hellblauen Kleid und Flipflops beim Brunnen und umarmte die Freundin herzlich. Vor dem Café Korb lag ein vollbesetzter Gastgarten, wo sich Wiener und Touristen unter schattenspendenden Schirmen drängelten. Das Lokal selbst war leer. In dessen kultiviert abgewohntem Ambiente, das sich seit den Sechzigern des 20. Jahrhunderts kaum verändert hatte und seine Antiquiertheit gelassen ausstellte, machten es sich die Frauen an einem kleinen Tisch bequem.
Albines Gesicht war mit Sommersprossen übersät. Ihr naturrotes, lockiges Haar war auf dem Hinterkopf zu einem üppigen Schwanz zusammengebunden, sie trug eine weiße Leinenhose und ein grünes T-Shirt, unter dem sich ihr schöner Busen abzeichnete. An ihren bloßen Füßen befanden sich blaue Chucks, die aussahen, als hätten sie schon einige Sommerfestivals durchlebt.
Albine wirkte locker, unbefangen und herzlich. Nur selten hatte Lily sie anders erlebt. Wenn doch, war Albine das krasse Gegenteil gewesen, nämlich in düsterster Depression verfangen samt akutem Heißhunger auf Unmengen von Alkohol und Joints. Aber diese Phasen hatten nie länger als ein paar Tage angehalten. Darum beneidete Lily ihre Freundin. Weniger Neurosen, mehr Leichtigkeit wünschte sie sich auch für sich selbst.
»Sag schon, wie geht’s dir?«, drängte Albine, nachdem beide ihre Bestellungen aufgegeben hatten und der Ober verschwunden war. Albines dunkelgrüne Augen waren plötzlich riesengroß, sie brannte sichtlich auf Informationen.
»Gemischte Gefühle, würde ich sagen«, erwiderte Lily und verzog den Mund.
»Solange man nur irgendetwas fühlt, ist es schon gut. Wie sieht es in deiner Herzregion aus?«
»Frag einen Geologen.«
»Warum denn das?«
»Weil mein Herz aus Stein ist.«
»Blödsinn«, sagte Albine stirnrunzelnd. »Wer behauptet sowas?«
»Er.«
»Ein Geologe?«
»Nein, mein Exfreund und Ex-Verlobter und Fast-Ehemann. Und er hat ja recht. Niemand kann ihm das verübeln.«
Albine protestierte: »Du musst ihn wirklich nicht auch noch verteidigen.«
»Doch, muss ich. Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen. Ich bin verantwortlich für alles. Ich bin die Böse.«
Albine blickte Lily lange an, ihr Gesicht war schlagartig ernster als üblich. Sie beugte sich vor und berührte sanft die rechte Hand der Freundin. »Ich finde nicht, dass Schuldgefühle so wahnsinnig hilfreich sind.«
»Stimmt, das sind sie nie«, erwiderte Lily und nickte zustimmend. »Aber ich habe sie eben. Diese permanenten Selbstvorwürfe sind ein Charakterfehler, ich weiß.«
»Also bereust du jetzt plötzlich alles, was war?«
»Das ist ja das Problem«, sagte Lily und lächelte gelöst. »Ich habe alles falsch gemacht. Aber ich bereue nichts. Gar nichts. Schon wieder ein Charakterfehler.«
*
Wenn sie erst einmal durch deine Wohnung trampeln und deine Sachen durchwühlen, dann bist du wirklich tot, dachte Major Belonoz.
Ihm war nicht wohl zumute, und trotz seiner langen Berufserfahrung hatte er dieses Gefühl niemals abstreifen können. Er steckte in einem leichten, atmungsaktiven Schutzanzug aus weißem Kunststoff und inspizierte zum wiederholten Mal Magdalena Karners Zuhause. Die Fenster hatte man schon vor Stunden geschlossen, die Luft war stickig und stand geradezu im Raum. Feucht glänzten die Gesichter aller, die hier arbeiten mussten. Ihre durchgeschwitzten Hemden wurden von den Kunststoffoveralls gnädig verhüllt.
Belonoz wunderte sich. Die Studentenwohnungen, die er bisher kennengelernt hatte, waren ganz anders gewesen. Vor allem chaotischer und schmutziger. Mit billigen Möbeln, herumliegenden Skripten und Büchern, ungewaschenen Geschirrbergen in der Küche. Dazu leere Wein- und Bierflaschen, zerwühlte Betten und verstreute Zigarettenstummel. Nichts dergleichen war hier zu finden.
Alles war ordentlich und befand sich am richtigen Platz. Das Ambiente hätte man der braven, unverheirateten Marketingassistentin eines straff organisierten internationalen Konzerns zurechnen mögen. Sorgfältig war das Bett gemacht und völlig unberührt. Nirgendwo gab es Spuren, die auf Alkoholkonsum deuteten. Der Kühlschrank war mit Fruchtjoghurts, Käse, Obst und Gemüse gefüllt. Mineralwasser und Apfelsaft waren die einzigen Getränke, die dort gelagert wurden.
Auf einem Regal befanden sich vier in Messing gerahmte Fotos. Belonoz beugte sich
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