Maengelexemplar
denn?«
»Keine Ahnung«, sage ich tapfer. »Nicht so schlimm, dass ich zur Rasierklinge greifen würde, aber bis morgen möchte ich wiederum ungern warten.«
»Na, da kommt grad der Herr Doktor. Ich reich Sie mal weiter!«
»Hallo, Frau Herrmann?«, fragt eine männliche Stimme nach kurzem Getuschel. »Wie geht es Ihnen denn?«
»Na, bei allem Respekt, was glauben Sie, wie es mir geht, wenn ich heulend Ihre Sprechstundenhilfe anrufe und um einen sofortigen Termin bitte?« Ich habe keinen Nerv für Phrasen.
»Was ist denn das Problem?«, fragt der Herr Doktor ganz sachlich. Vermutlich wurde er schon von ganz anderen Kalibern am Telefon angebrüllt.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Ich habe vor ein paar Wochen meine Antidepressiva abgesetzt, und jetzt geht’s mir schlecht. Sehen Sie da einen Zusammenhang? Soll ich wieder Tabletten nehmen? Bin ich verrückt? Ich dachte, ich wäre es nicht!«, erbreche ich die Worte. Ich bin ungeduldig. Ich will, dass der Doktor gleich weiß, wie es in mir aussieht. Er soll mir helfen, mir raten, mich heilen!
»Puh, Frau Herrmann. Das kann ich alles nicht am Telefon beantworten!«
»Das ist mir klar, aber ich wollte auch keine telefonische Beratung!«
»Passen Sie auf, ich versuche, Sie heute noch irgendwo reinzuschieben. Ist 17.30 Uhr zu spät?«
»Nein, 17.30 Uhr ist prima. Vielen Dank! Und entschuldigen Sie meine Hysterie!«
Ich war zu laut, zu fordernd. Ich war ich. Nicht so schön.
Aber ich bin beruhigt. Ein wenig. Ich möchte so gern alles abgeben: Hier bin ich. Ich bin nackt. Ich zeige euch alle meine Geheimnisse, meine Ängste, meine Unsicherheiten, meine Verfehlungen. Ihr dürft in jedes Loch sehen, ich beantworte jede Frage so ehrlich, wie ich es kann. Ich nehme jede Last auf meine Schultern, beichte all meine Sünden. Ich werde nicht lügen. Ich will brav sein und alles richtig machen, nur, bitte, helft mir hier raus!
Anette ruft zurück. Ich schildere das Problem und fange wieder an, zu weinen. »Was ist nur los mit mir?«, will ich wissen. »Warum passiert das wieder? Was mache ich denn verdammt nochmal falsch?«
Anette versucht, mich zu beruhigen. »Karo, du machst nichts falsch. Ich denke, es liegt einfach daran, dass du wieder mehr in Beziehung stehst!«
»Was soll das bedeuten? Zu wem stehe ich mehr in Beziehung?« Ich verstehe nichts.
»Du stehst wieder mehr in Beziehung zu dir. Und auch zu anderen Menschen. Zu Max. Das macht dir Angst, denke ich.«
Ich bin verwirrt. Diese Informationen und alle Erkenntnisse des letzten Jahres tanzen in meinem Kopf wie zu elektronischer Musik, zuckend und schnell. Ich kann im Strobolicht meines Kopfes nicht mehr sehen. Kann mich bitte jemand löschen? Ich will geblitzdingst werden, bitte schalte mich mal jemand aus. Reset. Ich will nichts mehr wissen, nicht mehr schlussfolgern, nachsehen, suchen, verstehen. Nur noch sein. Am liebsten gesund.
»Ich kann nicht mehr. Mach mich wieder ganz!«, flehe ich Anette an wie ein kleines Kind.
»Karo, du schaffst das! Wir kriegen dich wieder hin. Aber gestehe uns ein wenig mehr Zeit zu! Lass mal ein bisschen los!«
»O.k.«, flüstere ich. Ich weiß nicht, was sie meint, aber ich will es auch nicht wissen. Ich bin müde. »Dann bis übermorgen«, schiebe ich hinterher.
»Du kannst auch früher kommen, wenn du möchtest«, bietet Anette an. Sie macht sich Sorgen. Aber ich möchte nicht. Ich erzähle ihr von meinem Date mit dem Psychiater heute und dass das schon reichen wird.
Ich sitze auf dem Bürgersteig und rauche. Langsam komme ich runter. Alle Zuständigen sind alarmiert, die Arbeit kann wieder aufgenommen werden. Jetzt wird in die Hände gespuckt.
Wiederaufbau Karo
kann beginnen.
Max ruft zurück: »Sorry, ich war in einem Meeting. Wie geht’s dir jetzt?«
»Wieder besser, ich habe einen Termin bei einem Psychiater und mit Anette telefoniert«, sage ich mit fast fester Stimme. Dann fange ich sofort wieder an, zu weinen. Max’ vertraute Stimme macht mich anlehnungsbedürftig.
»Ach, Kleene! Wollen wir ein Eis essen gehen, bis du deinen Arzttermin hast? Ich kann mir den Rest des Tages freinehmen! Oder möchtest du lieber ein bisschen allein sein?«
Ach, mein liebster Fast-Freund! Ich möchte jetzt nichts lieber, als ein Eis essen. Nicht mehr allein sein, nicht mehr denken. Also sammle ich Max vor der Agentur ein, und wir setzen uns in einen Park und essen Schwedeneisbecher und sehen den Joggern beim Joggen zu.
In mir breitet sich Ruhe aus. Und
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