Maengelexemplar
sind sehr intelligent. Sie scheinen auch über einen sehr hohen
emotionalen
Intelligenzquotienten zu verfügen, und Sie sind über die Maßen empathisch, haben ein ausgezeichnetes Gespür für die Stimmung anderer. Nur bei sich selbst versagen diese Fähigkeiten total. Was Ihre eigenen Gefühle angeht, laufen Sie mit einem dicken Brett vor dem Kopf herum. Das ist merkwürdig. Es stimmt ganz offensichtlich: Sie können alles andere, aber nicht sich selbst spüren!«
»Oh«, sage ich und spüre plötzlich sehr deutlich die Last des Holzes vor meiner Stirn.
»Wissen Sie, diese Unfähigkeit zu spüren wird von der Seele als eine Art Schutzschild beispielsweise nach einer Traumatisierung aufgebaut. Das ist ganz natürlich und auch sehr nützlich. Es bewahrt Sie davor, Unerträgliches zu fühlen. Irgendetwas hat Sie veranlasst, sich zu schützen. Sie spüren sich selbst erst dann, wenn es schon fast zu spät ist, wenn Ihre Gefühle sich in einer Panikattacke entladen. Und wir müssen rausfinden, welche Verletzung bei Ihnen diese Reaktion ausgelöst haben könnte.«
Ah, nun bin ich wieder in meinem Element. Da kann ich mitreden und werfe mit nonchalantem Lächeln geübt meine Kindheit auf den Tisch, dass die Bionade wackelt. »Folgendes habe ich im Repertoire: 1. sexueller Missbrauch durch einen nahen Familienangehörigen, 2. Haue und zu wenig Liebe von einer überforderten und vermutlich damals selbst depressiven Mutter, und zu guter Letzt 3. ein Vater, der mir einfach nie glaubhaft vermitteln konnte, dass ich ihm ausreiche, so wie ich bin.« Bitteschön, suchen Sie sich ruhig eins aus, Herr Doktor! Ich bin kurz davor, »Schach!« zu rufen, aber das wäre der Situation wohl nicht angemessen, wie ich am Gesicht des Arztes ablesen kann. Er scheint überrascht. Ich vergesse immer wieder, dass dieser Rucksack voller Scheiße eigentlich kein Grund ist, stolz zu sein.
»Nun. Das sind sogar drei traumatische Ereignisse. Jedes Einzelne ist stark genug, um Sie zu dem zu machen, was Sie sind«, stellt er nahezu ernüchtert fest. »Auch wenn man sich in der Psychologie mit Diagnosen erst mal zurückhalten muss, kann ich in diesem Fall mit fast hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass das die Auslöser für Ihre Schutzmauer sind. Das musste eine solche Reaktion auslösen.«
Die Klarheit seiner Aussage macht mich sprachlos.
Interessiert sieht mich der Arzt an. »Was spüren Sie jetzt?«, fragt er.
»Ich bin traurig«, sage ich.
»Warum?«, will er wissen.
»Keine Ahnung. Weil es unfair ist. Weil all diese Menschen mich nicht richtig behandelt haben. Weil man so nicht sein darf zu einem kleinen Kind. Und ich bin wütend. Weil alles so anders hätte sein können.«
»Genau! Aber die gute Nachricht ist: Sie spüren etwas!«
»Ja, jetzt! Das ist auch einfach. Aber andere Situationen sind nicht so leicht zu entschlüsseln. Das ist ja mein Problem! Ich bekomme Angstanfälle in Momenten, in denen ich überhaupt nicht traurig bin. In denen scheinbar alles in Ordnung ist. Und dann denke und denke und denke ich. Versuche, in meinem Kopf zusammenzufügen, was nicht zusammengehört. Mein Kopf ist wie ein minderwertig produziertes Puzzlespiel, die einzelnen Stücke sind schlecht ausgestanzt und passen einfach nicht zusammen! Es macht mich wahnsinnig, immer auf der Suche nach einer Ursache zu sein. Die ganzen Möglichkeiten rennen in meinem Kopf durcheinander wie eine aufmüpfige Kindergartengruppe. Alles schreit und will nicht in einer Reihe stehen!«
»Dann hören Sie auf damit.«
»Womit?«
»Mit Denken.«
Nach über einer Stunde schleiche ich mit einem weiteren Termin und dem Rezept für Antidepressiva aus der Praxis meines neuen Psychiaters. Max sitzt tapfer immer noch im Wartezimmer und liest in einer Broschüre über Hyperaktivität. Eine Krankheit, die er nie bekommen wird.
Ich habe ein schlechtes Gewissen, ihn so lange rumsitzen gelassen zu haben. Draußen brüllt die Sonne, er hätte spazieren oder Kaffee trinken gehen können, hätten wir gewusst, dass es so lange dauern würde. Aber stattdessen sitzt er zwischen lauter ungeduldigen Kopfkranken und wartet auf mich. Mir wird ganz schwindlig vor Zuneigung.
»Es tut mir sehr leid, dass es so lange gedauert hat!«, sage ich und drücke Max dolle.
»Kein Problem.«
»Doch!«
»Nein.«
»Doch!«
»Karo, wenn ich sage, dass es kein Problem ist, dann ist es keins. Basta.«
Ich küsse meinen Begleiter auf die Brust, höher komme ich stehend nicht, und führe ihn hinaus in
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