Männer sind Helden
dritter: „Jaaahhhhh!“, dabei trommelte er sich mit beiden Fäusten auf die Brust. Nun ließ jeder seinen persönlichen Urschrei ertönen, auch Rudi, Udo und ich brüllten wie die Affen. Rudi warf sich sogar in die Tannennadeln und wälzte sich, bis er wie ein Streuselkuchen aussah. „Lasst eure Angst raus, so ist es gut!“, schrie Reiner und heizte die Stimmung noch weiter an. „Spürt den Urmann in euch!“ Für einen Augenblick hatte ich das Gefühl, als würde ich mich von oben betrachten: Rechtsanwalt Grühnspahn rennt mit wehender Banane durchs Unterholz – auf der Suche nach sich selbst. Ich unterdrückte jedoch einen Lachanfall und hopste weiter.
Wir tanzten und schrieen, bis das Feuer halb niedergebrannt war. Erschöpft, aber glücklich kehrten wir zu unserem Haus zurück. Wir spritzten uns gegenseitig mit eiskaltem Wasser ab und sprangen danach freiwillig in den Holzbottich.
Ich fühlte mich wunderbar erleichtert, fast schwerelos. Den anderen ging es genauso: „Das war wie eine seelische Runderneuerung“, sagte Rudi.
Vor uns lag ein großer Haufen Gemüsezwiebeln. Heute fand unsere erste Gesprächsrunde statt. Tagsüber hatten wir bis zur Erschöpfung Holz gehackt und uns danach bei einem zehn Kilometer langen Geländelauf „erholt“. Nun saßen alle Teilnehmer müde im Aufenthaltsraum, bereit, auch ihre Seele bis aufs Äußerste zu quälen. Reiner erklärte uns nicht, was die Zwiebeln auf dem Boden zu bedeuten hatten, vielmehr dozierte er über das Gefühlsleben der Männer. „Die meisten Männer können nicht weinen, selbst wenn sie wollen“, sagte er. „In den männlichen Tränendrüsen wird normalerweise genauso viel Flüssigkeit wie bei Frauen angesammelt. Männer haben es jedoch verlernt, ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen. Deshalb weigert sich das Gehirn selbst bei starken Gefühlszuständen, den Befehl zum Weinen zu geben.“
Er deutete auf die Zwiebeln: „Ich werde euch helfen, diese Blockade zu überwinden. Jeder von euch wird zunächst ein Kilo Zwiebeln schälen, dann sehen wir weiter.“
Ein Raunen ging durch unsere Reihen, aber wir wussten, dass Widerspruch zwecklos war. Also füllten wir die Zwiebeln in Papiertüten und gingen in die Küche, in der Holzbretter, Messer und Schüsseln bereitlagen. Einige Teilnehmer, darunter auch Frank, der Geschäftsführer, hatten in ihrem Leben noch nie eine Zwiebel aus der Schale gepellt, geschweige denn klein geschnippelt. Reiner und Eve zeigten den Männern, wie es geht.
Binnen weniger Minuten war die Küche mit dem beißenden Geruch der Zwiebeln erfüllt. Damit das Experiment auch wirklich klappte, durften wir kein Fenster öffnen. Udo rollten die ersten Tränen die Wange runter. Seine sonst perfekt manikürten Fingernägel hatten in den vergangenen Tagen ordentlich gelitten. Die Haut war eingerissen und die Nägel waren schmutzig und abgesplittert. Meine Hände sahen nicht besser aus.
Ich hatte die dritte Zwiebel klein geschnitten und schniefte andauernd. Meine Tränen konnte ich auch nicht zurückhalten, aber das war mir egal. Ich dachte zum ersten Mal, seit ich hier angekommen war, an Isabel, und Frust stieg mir in die Augen. Ich bemühte mich nicht, dieses Gefühl zu unterdrücken, denn schließlich konnte keiner erkennen, ob ich nun aus Trauer oder wegen der Zwiebeln flennte.
Im Übrigen ging es den anderen nicht besser: Sie schluchzten und jammerten wie ein Haufen hysterischer Weiber. Reiner war außerordentlich zufrieden mit uns.
Als nächsten Schritt sollten wir lernen, unsere Berührungsängste zu überwinden. Jeweils zwei Männer stellten sich gegenüber und legten ihre Hände auf die Schultern des anderen. Nun sollten wir unseren Namen sagen und uns dann in den Arm nehmen, was mir nun doch unangenehm war. Fast allen anderen ging es wohl genauso, denn sie schauten nach dieser Übung beschämt auf den Boden. Nur drei von uns hatten glänzende Augen. Hatten die vielleicht soeben ihre wahren Gefühle entdeckt?
Nach dem Abendessen durften wir unternehmen, was wir wollten. „Ich habe eine Überraschung für euch“, sagte Rudi geheimnisvoll. „Wir treffen uns in einer Stunde hinter dem Toilettenhäuschen.“ Als Udo und ich dort erschienen, wartete Rudi bereits auf uns. Er schwang einen Benzinkanister vor unseren Nasen hin und her: „Ratet mal, was ich hier habe?“
Da wir keine Lust auf solche Spiele hatten, flüsterte uns Rudi zu: „Echten schottischen Whisky!“
„Na, das ist doch eine gute Nachricht“, sagte
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