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Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm

Titel: Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Wilhelm
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So hörte er nur die Luft an seinen Ohren sausen, als führe er durch einen starken Wind, und unter sich hörte er das Rauschen und Toben von Flut und Wellen. Im Nu ließ sich der Vogel auf einer Insel nieder. »Nun sind wir da«, sagte er.
    Da machte der Kleine die Augen auf und blickte um sich; da sah er allenthalben Glanz und Glimmer, lauter gelbe und weiße Sachen. Er nahm von den kleinen Stücken etwa ein Dutzend und barg sie in seinem Busen.
    »Ist es genug?« fragte der Vogel Rokh.
    »Ja, ich habe genug«, antwortete er.
    »Gut so«, sagte der Vogel, »Genügsamkeit schützt vor Schaden.«
    Dann nahm er ihn wieder auf den Rücken und trug ihn übers Meer zurück.
    Als der Kleine nach Hause kam, da kaufte er sich mit der Zeit ein gut Stück Land und ward recht wohlhabend.
    Sein Bruder aber ward neidisch auf ihn und fuhr ihn an: »Wo hast du denn das Geld gestohlen?«
    Der Kleine sagte ihm alles der Wahrheit gemäß. Da ging der Große heim und hielt mit seinem Weibe Rat.
    »Nichts leichter als das«, sagte das Weib. »Ich koche einfach wieder Getreide und behalte ein Korn zurück, dass es nicht gar wird. Das säst du aus, und wir wollen sehen, was geschieht.«
    Gesagt, getan. Und richtig kam ein einzelner Halm hervor, und richtig trug der Halm eine einzelne Ähre, und als es Zeit zur Ernte war, kam wieder der Vogel Rokh und trug sie in seinem Schnabel davon. Der Große freute sich und lief ihm nach, und der Vogel Rokh sprach wieder dieselben Worte wie das vorige Mal und trug den Großen nach der Insel. Dort sah der Große Gold und Silber ringsum angehäuft. Die größten Stücke waren wie Berge, die kleinen waren wie Ziegelsteine und die ganz kleinen wie Sandkörner. Es blendete ihn ganz in den Augen. Er bedauerte nur, dass er kein Mittel wußte, Berge zu versetzen. So bückte er sich denn und hob an Stücken auf, was er konnte.
    Der Vogel Rokh sprach: »Nun ist es genug! Es geht dir über die Kraft.«
    »Gedulde dich noch eine kleine Weile«, sagte der Große. »Sei nicht so eilig! Ich muss noch ein paar Stücke haben.«
    Darüber verging die Zeit.
    Der Vogel Rokh trieb ihn abermals zur Eile an: »Die Sonne wird gleich kommen«, sagte er, »und die ist so heiß, dass sie die Menschen verbrennt.«
    »Wart’ noch ein bisschen«, sagte der Große.
    Im Augenblick aber kam ein rotes Rad mit Macht hervor. Der Vogel Rokh flog in das Meer, breitete seine beiden Flügel aus und schlug damit in das Wasser, um der Hitze zu entrinnen. Der Große aber ward von der Sonne aufgezehrt.

2. Die drei Reimer
    In einem Hause waren drei Töchter. Die älteste heiratete einen Doktor, die zweite heiratete einen Magister, die dritte aber, die besonders klug war und geschickt im Reden, heiratete einen Bauern. Nun traf es sich, dass ihre Eltern Geburtstag feierten. Da kamen die drei Töchter mit ihren Männern, um ihnen Glück und langes Leben zu wünschen. Die Schwiegereltern bereiteten für ihre drei Schwiegersöhne ein Mahl und tischten ihnen Geburtstagswein auf. Der Älteste aber, welcher wußte, dass der dritte Schwiegersohn die Schule nicht besucht, wollte ihn in Verlegenheit bringen.
    »Das ist doch gar zu langweilig«, sagte er, »wenn wir nur so trinken; wir wollen ein Trinkspiel machen. Auf die Worte: am Himmel — auf Erden — am Tische — im Zimmer — soll jeder ein Gedicht machen, das sich reimt und Sinn hat. Wer’s nicht kann, der muss zur Strafe drei Gläser leeren.«
    Alle Anwesenden waren’s zufrieden. Nur der dritte Schwiegersohn kam in Verlegenheit und wollte durchaus gehen. Aber die Gäste ließen ihn nicht fort und nötigten ihn zum Sitzen.
    Da begann der älteste Schwager: »Ich will mit dem Reimen anfangen. Ich sage:
Am Himmel stolz der Phönix fliegt,
Auf Erden zahm das Schäflein liegt,
Am Tische les’ ich alte Weise,
Im Zimmer ruf’ der Magd ich leise.«
    Der zweite fuhr fort: »Und ich sage:
Am Himmel fliegt die Turteltaube,
Auf Erden wühlt der Ochs im Staube,
Am Tisch studiert man, was gewesen,
Im Zimmer führt die Magd den Besen.«
    Der dritte Schwiegersohn aber stotterte und brachte nichts hervor. Als alle ihn nötigten, da brach er mit grobem Ton heraus:
»Am Himmel fliegt — eine Bleikugel,
Auf Erden geht — ein Tigertier,
Am Tische liegt — eine Schere,
Im Zimmer ruf’ ich — dem Stallknecht.«
    Die beiden Schwäger klatschten in die Hände und begannen laut zu lachen.
    »Die vier Zeilen reimen sich ja gar nicht«, sagten sie, »und außerdem ist kein Sinn darin. Eine Bleikugel ist doch

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