Märchen aus China - Vollständige Ausgabe mit Anmerkungen in der Übersetzung von Richard Wilhelm
her.
Als er zum Tore des Gehöftes kam, da sah er seinen jüngeren Bruder herbei kommen, der Klein-Vorteil auf den Armen trug.
»Wo gehst du hin?« sagte er zu ihm.
Der Bruder sprach: »Klein-Vorteil ist ein Götterwesen, das nicht dauernd unter Menschen wohnen mag. Er will wieder in den Himmel fliegen, und ich gebe ihm das Geleite.«
»Gib Klein-Vorteil doch mir! Lass ihn nicht gehen!« sagte der Ältere.
Aber ehe er ausgeredet hatte, erhob sich Klein-Vorteil in die Lüfte. Der ältere Bruder ließ nun eilig die Mutter auf den Boden fallen und streckte die Hand aus, um Klein-Vorteil zu erhaschen. Aber es gelang ihm nicht, und schon erhob sich auch die Große Pflicht, fasste Klein-Vorteil bei der Hand, und beide zusammen stiegen zu den Wolken auf und verschwanden.
Da stampfte der ältere Bruder auf den Boden und sagte seufzend: »Ach! Weil ich nach dem kleinen Vorteil gierig war, habe ich die große Pflicht versäumt.«
4. Wer ist der Sünder?
Es waren einmal zehn Bauern, die gingen miteinander über Feld. Sie wurden von einem schweren Gewitter überrascht und flüchteten sich in einen halb zerfallenen Tempel. Der Donner aber kam immer näher, und es war ein Getöse, dass die Luft ringsum erzitterte. Kreisend fuhr ein Blitz fortwährend um den Tempel her. Die Bauern fürchteten sich sehr und dachten, es müsse wohl ein Sünder unter ihnen sein, den der Donner schlagen wolle. Um herauszubringen, wer es sei, machten sie aus ihre Strohhüte vor die Tür zu hängen; wessen Hut weg geweht werde, der solle sich dem Schicksal stellen.
Kaum waren die Hüte draußen, so ward auch einer weg geweht, und mitleidlos stießen die anderen den Unglücklichen vor die Tür. Als er aber den Tempel verlassen hatte, da hörte der Blitz zu kreisen auf und schlug krachend ein. Der eine, den sie verstoßen hatten, war der einzige Gerechte gewesen, um dessentwillen der Blitz das Haus verschonte. So mussten die neun ihre Hartherzigkeit mit dem Leben bezahlen.
5. Das Zauberfass
Es war einmal ein Mann, der grub auf seinem Acker ein großes, irdenes Faß aus. Er nahm es mit nach Hause und sagte zu seiner Frau, sie solle es rein machen. Wie nun die Frau mit der Bürste in das Faß fuhr, da war auf einmal das ganze Faß voll Bürsten. Soviel man auch herausnahm, es kamen immer neue nach. Der Mann verkaufte nun die Bürsten, und die Familie hatte ganz gut zu leben.
Einmal fiel aus Versehen ein Geldstück in das Faß. Sofort verschwanden die Bürsten, und das Faß füllte sich mit Geld. Nun wurde die Familie reich; denn sie konnten Geld aus dem Faß holen, soviel sie wollten.
Der Mann hatte einen alten Großvater im Haus, der war schwach und zittrig. Da er sonst nichts mehr tun konnte, stellte er ihn an, Geldstücke aus dem Faß zu schaufeln, und wenn der alte Großvater müde war und nicht mehr konnte, ward er böse und schrie ihn zornig an, er sei nur faul und wolle nicht. Eines Tages aber verließen den Alten die Kräfte. Er fiel in das Faß und starb. Schon war das Geld verschwunden, und das ganze Faß füllte sich mit toten Großvätern. Die musste der Mann nun alle herausziehen und begraben lassen, und dafür brauchte er das ganze Geld, das er bekommen hatte, wieder auf. Und als er fertig war, zerbrach das Faß, und er war wieder arm wie zuvor.
6. Das Glückskind und das Unglückskind
Es war einmal ein stolzer Fürst, der hatte eine Tochter. Die Tochter aber war ein Unglückskind. Als die Zeit herangekommen war, da sie heiraten sollte, da ließ sie alle Freier sich vor ihres Vaters Schloss versammeln. Sie wollte einen Ball von roter Seide unter sie werfen, und wer ihn fing, der sollte ihr Gatte werden. Da waren nun viele Fürsten und Grafen vor dem Schloss versammelt. Mitten unter ihnen stand aber auch ein Bettler. Und die Prinzessin sah, dass ihm Drachen zu den Ohren hinein krochen und zur Nase wieder herauskamen; denn er war ein Glückskind. Da warf sie den Ball dem Bettler zu, und er fing ihn auf.
Erzürnt fragte ihr Vater: »Warum hast du den Ball dem Bettler in die Hände geworfen?«
»Er ist ein Glückskind«, sagte die Prinzessin, »ich will ihn heiraten, vielleicht bekomme ich dann Teil an seinem Glück.«
Der Vater aber wollte das nicht leiden, und als sie standhaft blieb, da trieb er sie im Zorn aus dem Schlosse.
So musste die Prinzessin mit dem Bettler ziehen. Sie wohnte mit ihm in seiner kleinen Hütte und musste Kräuter und Wurzeln suchen und selber kochen, damit sie nur etwas zu essen hatten, und oftmals
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