Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Märchen von den Hügeln

Titel: Märchen von den Hügeln Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Waltraut Lewin & Miriam Magraf
Vom Netzwerk:
ihn machen. Ja, es war sogar denkbar (hier fuhr er im Bett auf, und eine Falte des Unmuts zeigte sich zwischen seinen Brauen), daß die Drächin ihre eifersüchtige Wachsamkeit auch auf Leontine ausdehnen würde. Beunruhigt griff Klinger nach dem Mal auf seiner Haut. Es brannte stärker als zuvor.
    Das war Darenna zuzutrauen! Warum sollte er die Hüterin darauf abgerichtet haben, eine Ausnahme gelten zu lassen? Sicherlich saß er jetzt drüben und lachte sich ins Fäustchen über den leichtgläubigen Elben, der ihm so töricht in die Falle getappt war! Zorn stieg in ihm auf. Aber hatte er sich nicht freiwillig dieser Prüfung unterworfen? Es galt zu dulden und standzuhalten, es galt zu beweisen, daß auch ein Elb fähig war, Treue zu bewahren.
    Aufseufzend ließ er sich zurückfallen. Wir werden sehen! dachte er. Außerdem mußte er sich eingestehen, daß er sich im Augenblick gar nicht unbedingt von der Drächin trennen wollte. Er fand sie aufregend und ungeheuer belustigend und war neugierig auf weitere Ereignisse.
    Immerhin beschloß er, morgen nicht nur frisches Gehacktes zu besorgen, sondern Donna auch unauffällig auszuforschen, ob sie im Fall Leontine abweichende Instruktionen habe.
    Den Namen des Löwenmädchens auf den Lippen, schlief er ein.

Eine Sonate von Muzio Clementi
    Kaum hatte Leontine den Venusweg verlassen und war die letzten Stufen heruntergesprungen, als sich der Wind wieder erhob, nach der warmen Windstille dort drinnen heftig, jäh, bösartig. Die Baumzweige schlugen hinter ihr her, als seien sie Ruten in den Händen dunkler Geister, Staub wirbelte ihr in die Augen.
    Nur wenige Schritte entfernt sah sie ein Fenster, hell erleuchtetes Viereck, und aus ihm klang nah und klar das Klavierstück, die Sonate von Muzio Clementi. Hinter der Gardine aus altmodischer Häkelspitze zeichnete sich der bewegte Schattenriß der spielenden Frau ab, ein zartes Profil, umflossen von kurzem glattem Haar. Leontine öffnete den Mund, um »Mutter« zu rufen, aber ein zweiter, noch wilderer Windstoß riß ihr das Wort von den Lippen und verklebte ihr Nase und Augen mit Sand.
    Halb blind, stürzte sie vorwärts, als mit gellendem Hupen eine dunkle Masse um die Ecke kam und so dicht an ihr vorbeiraste, daß ihr Kleid gestreift wurde. Sie war, ohne es zu merken, auf die Fahrstraße geraten. Entgeistert starrte sie dem Bus nach, der seltsamerweise ohne Licht in die Nacht hineinsauste. Als sie ihre Augen wieder auf das wundersame Fenster heften wollte, war das Licht erloschen, die Musik verstummt, und in der immer dichter werdenden Finsternis schien es, als sei in der Wand da drüben überhaupt kein Fenster vorhanden.
    Andere Autos, die Straße in Licht tauchend, jagten an Leontine vorbei, talwärts, als sei es notwendig, noch vor Beginn des Gewitters irgendwo anzukommen. Blitze zuckten über den Hügeln. Blind von Staub und aufsteigenden Tränen, durchquerte das Mädchen den Grund. Sie verschmähte die Bahn Darennas, die auch zu dieser Stunde noch käfergleich den Berg hinaufkroch, und eilte aufwärts auf einem jener alten Elbenpfade, die der Magier geglättet und verbreitert hatte und die nun rechts und links von schönen Landhäusern gesäumt wurden, ehemalige Weinberge zu rasenbedeckten Parkterrassen verwandelt.
    Auf halber Höhe der Hügel begann endlich der Regen. Aber das Gewitter kam nicht näher, es stand über der Stadt. Leontine kehrte sich um und sah zurück. Große pfirsichfarbene Blitze zerteilten den Himmel. Die Windstöße jagten ihr das Regenwasser über Gesicht und Leib.
    »Ach«, rief sie und stützte ihre Hände auf die Brüstung einer Mauer, »wie kann man nur so glücklich und unglücklich sein zur gleichen Zeit!« Und fühlte, wie unter ihren Händen der feuchte und noch tageswarme Sandstein zu leben begann, sich wölbte, struppigweich wurde, dann vernahm sie ein Knurren, und zu ihren Füßen dehnte sich erneut eine Löwengestalt. Lautlos glitt es links und rechts heran, schmiegten sich drei, vier große Raubkatzen zu ihren Füßen.
    Leontine mußte unter Tränen lachen. »Meine lieben Tiere«, flüsterte sie und kraulte die schwarzen und sandfarbenen Mähnen, »die ihr mich begleitet, seit ich denken kann, immer zur Stelle seid, als wolltet ihr mir etwas sagen, was ich doch nicht begreife, um meine Wege streicht, als wäret ihr Gesandte von irgendwoher - liebe Onkel und Tantchen, wißt ihr denn nicht, daß ich, selbst wenn ich eure Sprache und eure Warnungen verstehen würde, euch doch nicht

Weitere Kostenlose Bücher